Ich Töte
entfernt ahnen 567
konnte: ein Leben, gespalten von dem ständigen Übergang vom Licht zum Dunkel, von der Wärme zur Kälte, von der Klarheit zum Delirium, im ewigen Dilemma, ob er nun einer oder keiner war.
Jean-Loups Lächeln erlosch. Seine Stimme war dieselbe, die seine Zuhörer bezaubert hatte. Sie verströmte Ruhe und Wohlbefinden.
»Ganz ruhig, Ottobre. Hab keine Angst. Ich erkenne das Wort
›Ende‹, wenn ich es vor mir sehe.«
Frank bückte sich, um sein Handy vom Boden aufzuheben. Während er Morellis Nummer eingab, dachte er daran, wie absurd diese Situation war. Da stand er, unbewaffnet und vollkommen hilflos einem Mann ausgeliefert, der ihn mühelos hätte vernichten können, und blieb nur deshalb am Leben, weil er beschlossen hatte, ihn nicht umzubringen.
Morellis Stimme tönte schroff durch den Hörer.
»Ja?«
Frank bot ihm als Gegenleistung seine erschöpfte Stimme und eine gute Nachricht.
»Claude, ich bin’s, Frank.«
»Was ist passiert? Was ist los mit dir?«
Die wenigen Worte, die er sagte, kosteten ihn unendliche Mühe.
»Komm sofort mit dem Wagen zurück zu Jean-Loups Villa. Ich habe ihn.«
Er achtete nicht auf die erstaunte Antwort des Inspektors. Er achtete nicht auf Pierrot, der den Kopf hängen ließ und sich nach diesen letzten drei Worten noch enger an seinen Freund schmiegte. Während er das Handy vom Ohr nahm, hatte Frank nur Augen für die Hand von Jean-Loup, die sich langsam öffnete und das blutige Messer zu Boden fallen ließ.
568
62
Das Auto der Sûreté Publique von Monaco scherte nach rechts aus und schoss in atemberaubender Geschwindigkeit die Autobahnausfahrt zum Flughafen von Nizza hinunter. Frank hatte Xavier gesagt, es ginge um Tod oder Leben, und der Mann hatte das wörtlich genommen. Trotz heulender Sirene konnte Frank deutlich das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt hören, während die Fliehkraft das Auto an den Außenrand einer Kurve beförderte. Sie kamen an einen Kreisverkehr, an dem offensichtlich gebaut wurde. Frank hielt die Tatsache, dass sie in einem Polizeiauto saßen, nicht für hinreichend, um die allgemeinen Regeln der Physik außer Kraft zu setzen, und das galt in diesem Moment besonders für das Prinzip der Undurchdringlichkeit der Körper. Er fürchtete ernsthaft, dass Xavier trotz seines unbestreitbaren Talents das Auto diesmal nicht auf der Fahrbahn würde halten können, dass sie die rotweißen Absperrplanken aus Plastik durchbrechen, den Abhang hinuntersausen und schließlich im Kiesbett des Var zwischen den Büschen liegen bleiben würden. Doch wieder einmal verblüffte ihn sein Lieblingsfahrer. Ruckartig riss er das Steuerrad herum, ließ den Wagen kontrolliert schleudern und verließ dann mit einer handbuchreifen Gegensteuerung die Kurve.
Frank sah, wie sich Morellis Körper entspannte, als er begriff, dass sie überleben würden. Nach einer kurzen, geraden Strecke begann Xavier, die Fahrt zu verlangsamen. Er schaltete die Sirene aus und bog in die Spur zum Terminal zwei ein, wo ein Schild die Kurzparkzone zum Ausladen von Gepäck und Passagieren auswies, für die Operation mit dem schönen Namen Kiss and Fly.
Frank lächelte insgeheim über die Ironie der Aufforderung.
Er glaubte nicht, dass Parker ihn küssen würde, bevor er abflog.
Statt auf der üblichen Straße am Terminal vorzufahren, bogen sie auf der Hälfte der Kurve in eine Privatzufahrt ein, wo zwei Wachleute des Flughafens Côte d’Azur an einer Schranke standen. Als sie den Streifenwagen erblickten, öffneten sie den Schlagbaum und ließen sie passieren. Kurz darauf stoppte das Auto sanft vor der Abfertigungshalle für internationale Flüge.
Morelli wandte sich an den Fahrer.
»Wenn du auf der Rückfahrt nochmal so fährst, sitzt du demnächst hinter dem Steuerrad eines Rasenmähers, das garantiere ich dir. Gartenbaubetriebe nehmen gerne Expolizisten …«
569
Frank lächelte und beugte sich vom Rücksitz aus nach vorn, um dem Fahrer solidarisch eine Hand auf die Schulter zu legen.
»Keine Sorge, Champion. Morelli bellt, aber er beißt nicht.«
Franks Handy begann zu klingeln. Er konnte sich schon denken, wer das war. Er steckte die Hand in die Jackentasche und zog sein Mobiltelefon hervor. Das Signal war so gebieterisch, dass er erwartet hätte, das Handy glühend vorzufinden, als habe der Klingelmechanismus außer der akustischen auch noch eine thermische Funktion.
»Ja?«
»Salut, Frank. Hier ist Froben. Wo steckst du?«
»Am Flughafen. Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher