Ich träume deutsch
aber ich konnte ihn nicht verstehen.
Ich sah ihm ganz mutig direkt in die Augen. „Ne oldu, was willst du?“
Yalcin zeigte wieder auf den Ball und klatschte in die Hände.
Babaanne hatte uns erzählt, dass Yalcin nicht sprechen konnte, weil er keine Zunge hatte. Seine Anne war schon vor langer Zeit gestorben. Danach musste er bei seinem Stiefvater leben. Damals war Yalcin noch ein kleiner Junge, und sein Stiefvater war ein sehr böser Mensch, der Yalcin oft verprügelte. Eines Tages nahm er sein Taschenmesser und schnitt Yalcin die Zunge ab. Danach musste er ins Gefängnis, und Yalcin blieb ganz allein. Eigentlich war er aber gar nicht allein, weil das ganze Dorf für ihn sorgte.
Babaanne sagte immer: „Dieser Hurensohn hat ihm nicht nur die Zunge abgeschnitten, er hat ihm auch sein Gehirn genommen.“
Yalcin beugte sich zu mir runter und streichelte sich selbst die Wange, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte. Zuerst wollte ich nicht, aber dann gab ich ihm doch meine Hand. Er küsste sie und gab mir eine Handvoll Leblebi aus seiner Hosentasche. Die Kichererbsen waren ganz feucht. Dann zeigte er wieder auf den roten Ball. Ich nickte ihm zu, und zog die Schultern hoch.
„Du sollst nicht mit ihm sprechen. Du weißt doch, dass er verrückt ist“, schimpfte Mine und zerrte mich weg.
|96| „Lass mich los, das weiß ich selber!“, antwortete ich wütend.
Ich winkte Yalcin noch einmal kurz zu, und wir machten uns auf den Weg nach Hause. Mit einem Mal standen wieder ganz viele Jungen um Yalcin herum und begannen, ihn zu ärgern. Sümüklü Ali gab Yalcin einen Tritt in den Hintern und rannte einfach weg. Diesmal gefiel es Yalcin gar nicht, dass die Jungs ihn ärgerten, aber er wehrte sich nicht, obwohl er viel größer und sicher auch viel stärker war als sie.
Mine und ich blieben stehen und sahen, wie Yalcin versuchte wegzurennen, aber die Jungs ließen ihn nicht gehen.
Ablam nahm ein paar Steine in die Hand und rannte zurück. „Haut sofort ab, lasst ihn in Ruhe, sonst hole ich Babaanne!“
Sie warf einen Stein nach Ali. „Verschwindet, los, haut ab!“, schrie Ablam. „Dich nennt man nicht umsonst den verrotzten Ali. Lern erst mal deine Nase putzen.“ Mine warf noch einen Stein hinter Sümüklü Ali her.
Da rannten alle davon. Vor meiner Babaanne hatten die meisten in Alaca nicht nur Respekt, sondern Angst. Einmal hatte meine Babaanne einen Mann geschlagen, weil er einem Mädchen hinterhergepfiffen hatte. Meine Babaanne war richtig stark. Außerdem durfte man sich älteren Menschen gegenüber nicht wehren oder gar die Hand gegen sie erheben, das war ein ganz großes Vergehen!
Yalcin kam gleich zu uns und gab Mine auch eine Handvoll Kichererbsen.
„Yalcin, du bist doch viel stärker als die, warum wehrst du dich denn nicht?“
Er sah mich nur an und zog die Schultern hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg.
„Yalcin, stimmt es, dass du dumm bist?“
|97| Mine zwickte mich in die Hand. „So was fragt man nicht, halt den Mund.“
Yalcin schüttelte den Kopf.
„Siehst du, er ist nicht dumm“, antwortete ich.
„Nilgün, du bist manchmal so einfältig! Dumme wissen doch gar nicht, dass sie dumm sind“, flüsterte Mine.
„Hm, aber Yalcin ist nicht dumm. Stimmt’s, Yalcin?“
Yalcin freute sich, nickte und klatschte wieder in die Hände. Er brachte uns bis vor die Haustüre und saß anschließend noch ganz lange auf der Steintreppe.
Wir erzählten Babaanne, was wir erlebt hatten, und sie sagte immer wieder: „Orospu Çocuklari, das sind alles Hurensöhne!“
Dann sah sie aus dem Fenster. „Der arme Junge hat niemanden daheim, der auf ihn wartet.“
„Darf er uns mal besuchen, Babaanne?“, fragte ich. Babaanne überlegte kurz und sagte dann: „Niye olmasin, warum nicht, er ist ein harmloser Trottel.“
Da wir überhaupt keine Angst mehr vor Yalcin hatten, nützte es nun gar nichts mehr, wenn Babaanne uns abends mit „Schlaft sofort, sonst hole ich Yalcin!“ drohte. „Ihr habt es auch begriffen, dass sogar eine Fliege gefährlicher ist als Yalcin“, sagte sie und versteckte ihr Lachen.
Einige Tage später hatte Yalcin uns eine Puppe aus Stoff gemacht, die sogar Haare hatte. Er hatte einen Maiskolben mit Stoff umwickelt. Die roten Maiszipfel schauten oben raus und sahen aus wie Haare. Ich wollte ihm natürlich auch eine Freude machen und schenkte ihm ein Pustefix, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Als ich ihm zeigte, wie man große Seifenblasen machen
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