Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Schmerz war ein Ausweg, als ich in mir selbst eingesperrt war. An dem Abend, bevor ich in das Therapiezentrum ging, war ich zu Hause, im Haus meiner Eltern. Kein Alkohol. An dem Abend hätte ich nirgendwo trinken gehen können.
Auch nach der Therapie werde ich zu diesem mehrstöckigen Gebäude zurückkehren, ich werde mit dem Aufzug zu meinem Treffen fahren – man nennt es Dry-Dock-Treffen. Doch noch während ich in der Therapie bin, verlässt mein Freund das Zentrum, und ich nehme mir einen anderen: Jason. Als Jason das erste Mal meinen Blick auf sich spürt – er steht im Bus vor mir im Gang –, bekreuzigt er sich. Als wäre ich ein Vampir. Er weicht vor mir zurück. Er ist vernünftig, dunkelhaarig, erwachsen. Er hat einen höheren Rang als die meisten anderen hier und ist es gewohnt, Befehle zu erteilen. Ich mag seinen Geruch nicht – eine Bitternis steigt aus seinen Poren auf, wie das Öl einer giftigen Pflanze. Wenn er übers Wochenende Freigang hat und das Zentrum verlassen kann, trinkt er. Aber er muss zu uns zurückkommen. Ich finde ihn im dunklen Treppenhaus des Zentrums, wo er auf der Treppe sitzt. Geläutert, aber nicht kaputt oder gebrochen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn je geküsst hätte, aber am Ende des Monats sind wir verlobt. Er sagt: »Eine Frau mit drei Ohrringen am Ohr kann nicht meine Frau sein.« Er sagt: »In dieser Hose kannst du nicht mit zu meinen Freunden kommen.« Ich finde es lächerlich, dass er glaubt, er kann mich rumkommandieren, aber seine Bestimmtheit hat etwas Beruhigendes. Ich füge mich ihm, erlaube ihm, mich zu kontrollieren.
Ich werde in einem Wohnwagen in Jacksonville leben, sagt er, solange er zur See fährt. Mir gefällt die Idee von einem neuen Leben, von Zimmern nur für mich. Aber vor der Hochzeit trinke ich, werde rückfällig. Jason und ich sind in einem Hotel. Wir brauchen ein Zimmer. Ich wohne noch zu Hause, und er ist in einem Marinequartier untergebracht. Auf dem Weg zum Aufzug sehen wir bei der Hotelbar ein Schild. »Gratisgetränke« steht darauf. »Ich könnte uns was holen«, sage ich als Witz.
»Vielleicht wäre das lustig«, sagt er. Ich bin überrascht, dass er das sagt. Ich bin seit zwei Monaten trocken – sechs Wochen in der Therapie, zwei Wochen, seit ich draußen bin. Ich bin nicht oft zu den Treffen gegangen. Wenn ich hingehe, bleibe ich nicht bis zum Schluss. Ich sage mir, ich muss ins Fitnessstudio, Sport machen. Das ist auch gesund. Ich kann nicht einfach rumsitzen und den Leuten zuhören. Es ist schwer, die eine Stunde, die das Treffen dauert, still zu sein. Ich habe noch nicht gelernt, innerlich teilzunehmen, meine Gedanken rasen davon, führen mich zur Tür hinaus. Ich möchte an die Bar gehen und mich in einen anderen Bewusstseinszustand trinken. Das ist das Muster, nach dem sich mein Leben in den nächsten zwei Jahren abspielen wird. Rückfälle immer dann, wenn ich etwas anderes vorschiebe, statt zu den Treffen zu gehen. Ich muss jeden Abend zu einem Treffen gehen. Manchmal zweimal am Tag oder sogar dreimal. Aber das weiß ich jetzt noch nicht.
Jason hat nicht mehr getrunken, seit er während unserer Therapie einmal eingebrochen ist. Wie kann er sagen, dass es eine gute Idee ist? Der Boden scheint schräg abzufallen, die Wände grau in diesem schäbigen Hotel. Ich bin nicht verliebt. Jason bietet Sicherheit, er ist älter – er wird auf mich aufpassen. Wenigstens habe ich das gedacht, aber jetzt findet er, wir sollten uns was zu trinken holen? Vielleicht fühlt er sich eingesperrt, so wie ich, ist gelangweilt. Ich weiß nicht, was er will. Mir geht auf, dass ich ihn gar nicht kenne.
Als wir im Aufzug sind, habe ich einen Plastikbecher mit Cola-Rum in der Hand. Das ist mir vertraut. Jason holt sich keinen Drink. Das Hotelzimmer fühlt sich zu klein an. Ich mag es nicht, dass Jason mir beim Trinken zusieht. Ich verberge meinen Becher auf dem Spülkasten der Toilette im Bad. Und gehe wieder rein, um davon zu trinken, heimlich. Ich bin Jasons, bin des traurigen Zimmers überdrüssig – ich möchte ausgehen. Aber das ist unmöglich. Es macht eindeutig keinen Spaß zu trinken. Ich bin erst seit so kurzer Zeit trocken, dass ich noch kein Gefühl für das habe, was ich verliere. Als würde die Krankheit mich polstern. Mein Trinken fühlt sich nicht wie eine Katastrophe an, aber es löst mich aus der Vertäuung.
Meine Mutter plant meine Hochzeit. Sie kauft mir ein weißes Kleid. Wir suchen Einladungskarten mit geprägter
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