Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Krankenhauszimmer, auf einem Stuhl in einem großen, leeren Kreis von Stühlen. Ich setze mich neben sie. Es ist, als wären wir von unsichtbaren, stillen Menschen umgeben. Hinter uns hängen dunkle, schwere Vorhänge, von der Decke bis zum Fußboden, wie bei einer Bühne. Ihr Gesicht hat sich mir nicht eingeprägt, aber sie ist Nonne. In Straßenkleidung. Und weil sie Nonne ist, habe ich das Gefühl, ich sollte nicht über Körperliches sprechen oder sexuelle Begriffe verwenden. Meine Worte fühlen sich verschwommen an. Aber ich höre, wie sie sagt: »Sie haben keine Schuld. Was immer Sie getan haben. Sie haben keine Schuld.« Am Himmel ist ein Zeichen, möchte ich sagen. Sehen Sie doch.
Eigentlich sollte ich wieder zu der Nonne gehen. Ich gehe aber nicht. Aber wenn ich nicht mehr weiß, wie ich früher einmal war, und wenn ich im Auto auf dem Highway in dichtem Verkehr sitze, drücke ich mir mit dem Zigarettenanzünder sengende Kreise auf die weiche Innenseite meines Arms, die zu weißen, kraterartigen Narben werden, ebenmäßigen kleinen Monden, oder ich zerbreche ein Saftglas im Waschbecken, ein Whiskeyglas auf dem Spülkasten der Toilette in der Bar, und ritze dünne blutige Linien um die Monde herum – und einmal, als ich vergesse, mir die Ärmel runterzurollen, und einer Frau in der Bar ein Getränk vorsetze, lehnt sie sich zurück und fragt: »Was ist Ihnen denn passiert?«, und als ich sage: »Ein Unfall«, werden ihre Augen ganz schmal, und sie sagt: »Sieht aus, als wären Sie in einem Konzentrationslager gewesen.« Die Frau mustert mich prüfend, verärgert, dass ich nicht einbreche und ein Geständnis ablege, ihre zusammengepressten Lippen sagen mir deutlich, dass sie Lügner nicht mag – oder wenn ich mich irgendwo plötzlich im Spiegel sehe und das nette Mädchen nicht erkenne, das hübsche Lächeln, dann versuche ich die Stimme der Nonne in meinem Kopf zu hören, als Lied. Ihre Worte beruhigen mich, obwohl ich sie nicht glaube. Es hilft, dass es jemanden gibt, der sagt, es war nicht meine Schuld.
Nach der Vergewaltigung sehne ich mich nach unserem roten Schaukelstuhl, nach dem kratzigen Stoff. Als ich klein war, nahm mich meine Mutter, die mich selten anfasste, nach einer Bestrafung in die Arme. Obwohl das nicht oft geschah und auch nicht ungewöhnlich war – in der Schule gab es noch körperliche Züchtigung –, war es doch jedes Mal erniedrigend, und meine Mutter, die gegenüber meinem Vater klagte, dass ich etwas Schlimmes getan hatte, vollstreckte die Strafe. Nach der Strafe hielt sie mich auf dem Schaukelstuhl im Arm, mein Körper kam ihr in dem Moment nicht abstoßend vor. Als müsste ich gebeugt werden, zu einem hoffnungslosen Fall gemacht werden, bevor sie mich anfassen konnte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich dann so verletzlich war wie ein Baby. Es war dann mehr wie am Anfang, als wir eins waren. Der Schaukelstuhl war neu gepolstert worden, in einer anderen Farbe, aber sie hatte mich darin im Arm gehalten. Ich würde ihr gern die Linien in meinen Händen zeigen, sie fragen, ob sie mich erkennt.
Ich muss auf gewaltlose Art angefasst werden. So bald wie möglich. Im
Time Magazine
hatte ich gelesen, dass eine Frau sieben Jahre braucht, bis sie eine Vergewaltigung vollständig überwindet. Ich will nicht zulassen, dass mir das auch weggenommen wird. Die Lust, berührt zu werden. Ich erfinde mein eigenes Rezept, einen Plan, wie ich mit der Vergewaltigung fertigwerde.
Ich muss jemanden finden, mit dem ich Sex haben kann. Aber vorher muss ich mich betrinken. Ich habe erst vor drei Tagen mit Antabuse aufgehört. Ich hatte angefangen, das Medikament zu nehmen, um zu zeigen, dass mir das mit dem Trinken leidtut, dass ich meine Lektion gelernt habe.
Hier, ich nehme diese Tablette, und dann kann ich nicht trinken.
Aber Antabuse verhindert nicht, dass man trinkt, es bewirkt nur, dass einem vom Trinken übel wird. Und obwohl es »ungiftig« ist, kann es einen angeblich umbringen. Wenn man Alkohol trinkt und gleichzeitig Antabuse nimmt, produziert der Körper mehr von einer bestimmten Säure, einer farblosen, entflammbaren Flüssigkeit. Ein Konzentrat. Der Stoff wurde 1930 von Arbeitern in einer Gummifabrik entdeckt, die damit arbeiteten und krank wurden, wenn sie anschließend Alkohol tranken.
Ich höre auf, Antabuse zu nehmen, und erwähle mir Steve, den Barkeeper aus der Eisenbahnbar. Blauäugig, sanftmütig. Er war so groß wie ich, sodass er wie einer von der Highschool wirkte und als
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