Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
zwölf bis einundzwanzig Uhr in dem Laden, fünfundvierzig Stunden in der Woche. Wenn ich die frühe Schicht habe, fahre ich nach der Arbeit die paar Minuten auf dem Highway zum Acht-Uhr-Treffen der AA am Broadway. Wenn ich abschließen muss, fahre ich trotzdem hin. Immer sind noch Leute da. Ich finde da jemanden, mit dem ich reden kann, bevor ich nach Hause gehe. Es tut mir gut, einen Ort zu haben, auf den ich mich verlassen kann, der sich wie ein Zuhause anfühlt. Manchmal sitze ich in der Runde und höre gar nicht richtig zu. Ich lese einfach die Zwölf Schritte auf dem laminierten Plakat an der Tür. Wenn ich spät eintreffe und der Raum schon voll ist, sitze ich eingezwängt zwischen den anderen. In Sicherheit. Am besten ist es, wenn ich einen Platz weiter in der Mitte bekomme. Sonst ist es so leicht, am Ende des Treffens rauszurennen, aus lauter Angst, und mich, ohne mit jemandem zu sprechen, ins Auto zu setzen. Aber ich will nicht wieder anfangen zu trinken. Die Erleichterung lohnt den Schmerz nicht, lohnt nicht das Risiko, dass andere die Kontrolle über mich übernehmen. Nicht die Sorge, dass ich, wenn ich wieder anfange zu trinken, sterben werde.
Manchmal gibt es auch eine zweite Runde in einem inneren Raum. Es ist gut, wenn ich da sitzen kann. Denn wenn ich raus will, muss ich an vielen Leuten vorbeigehen, habe vielfach Gelegenheit, Hallo zu sagen, jemanden zu umarmen. Am liebsten habe ich es, wenn wir uns am Ende des Treffens im Kreis an den Händen halten. Das machen alle. Wir sprechen zusammen ein Gebet. Ich liebe das. Manchmal sind die beiden Menschen, deren Hände ich halte, die einzigen Menschen, die ich den ganzen Tag lang berühre. Außer, wenn ich im Geschäft Wechselgeld rausgebe und mit den Fingerspitzen jemandes Handfläche berühre.
An einem Samstagabend, bevor das Treffen anfängt, kommt ein kleines Mädchen zu mir, die Tochter einer Alkoholikerin. Sie ist fünf. Ich sitze am Tisch und spreche mit einem Bergsteigertypen. Das kleine Mädchen und ich haben schon zusammen gemalt, und sie hat mit meiner Handtasche Verstecken gespielt. Aber an dem Abend legt sie mir die Arme um den Hals und berührt meinen Arm und fragt: »Wie kommt es, dass deine Arme so weich sind?« Bevor sie mich berührte, hätte ich ein Geist sein können. Ich hätte davonschweben können.
Wenn ich meinen Kurs habe, gehe ich später ins Geschäft und schließe ab. Aber manchmal habe ich frei und kann zu den Treffen um sechs oder acht gehen. Das Zentrum ist der Mittelpunkt meines Lebens. Zum ersten Mal gehe ich überhaupt nicht in Bars. Nach den Treffen schreibe ich zu Hause auf meiner neuen Schreibmaschine bis spät in die Nacht. Ich fange wieder mit Joggen an, morgens und am Wochenende. Meine Mom mag mich. Sie ist ruhiger, weicher. Ich habe sie immer geliebt, auch wenn sie so hart war. An der Universität belege ich einen Kurs über den englischen Roman und einen für Kreatives Schreiben.
Am 42 . Tag riskiere ich es auszugehen. Rachel hat angerufen. Mit ihr habe ich bei Dino’s Pizza gearbeitet, mein erster Job in Florida, als ich achtzehn war. Es gab immer Komplikationen mit ihr, denn es war nie nur Alkohol. Sie hatte immer auch Drogen, und die Mischung machte die Sache unberechenbar, trotzdem verabredete ich mich mit ihr. Ich hatte nicht vor zu trinken. Ich habe Glück, denn als ich um elf Uhr abends zu ihr komme, hat sie Valium genommen und dazu Whiskey getrunken und ist außerstande, etwas zu unternehmen. In ihrer Küche ist ein seltsamer, magerer Typ. Sie will, dass ich mit ihm ausgehe, aber das tue ich nicht. Ich gehe nach Hause. Am 64 . Tag gehe ich mit den beiden Schwestern aus, mit denen ich an dem Abend zusammen war, als ich entführt, vergewaltigt, fast ermordet wurde. Ich fühle mich sehr unwohl mit ihnen in der Bar, ohne zu trinken. Als wäre ich am falschen Ort.
Am 68 . Tag ohne Alkohol ist Sophie wieder da. Sie ruft an und schlägt vor, dass wir in die Bar gehen, wo Bill arbeitet. Ich bin einverstanden. Bill da drüben, ganz in Weiß nach einer Hochzeit. Er sagt: »Ich will alles über dich wissen.« An meinem 74 . Tag ohne Alkohol sagt Bill, dass er mich liebt. Er trinkt. Sophie trinkt. Aber sie beide wollen nichts mit mir zu tun haben, wenn ich auch trinke. Ich gehe immer noch zu den Treffen, aber ich gehe jetzt auch in Bars. Ziemlich oft. Als ich 76 Tage habe, sagt einer der Barkeeper: »Du bist Bills Freundin.« Aber ich bin nie die einzige. Am 80 . Tag sagt Sophie zu mir: »Vergiss ihn
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