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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Weiße sind für Neue und für die, die nach einem Rückfall wiederkommen – das ist der Wunsch-Chip. Für die, die sich ein neues Leben wünschen. Ich habe eine ganze Sammlung von weißen Chips. Ich hatte immer wieder Rückfälle, kam immer wieder zurück. Aber jetzt bin ich hier, seit neunzig Tagen trocken. Der erste Chip ist in allen Gruppen weiß, danach nehmen die Gruppen unterschiedliche Farben für die einzelnen Stadien. Bei den Broadway-Treffen ist der Drei-Monate-Chip gelb. Hier bin ich ruhiger, sicher in dem kleinen Haus, wo das Treffen stattfindet. Es gibt zwar keinen Chip, aber die anderen applaudieren mir. Ich komme mir albern vor, weil ich einen Pokerchip haben möchte und keinen bekomme. Doch dann, als ich gehen will, gibt J. mir seinen eigenen gelben Drei-Monate-Chip. Es ist ein besonderer, mit einem Spruch in der Mitte. J. ist seit zwölf Jahren trocken, und er hat seinen Drei-Monate-Chip bei sich. Ich meine, er hat den Chip seit zwölf Jahren und trägt ihn immer bei sich. Und jetzt gibt er ihn mir. Ich stecke ihn in meine Jeanstasche. Ich mag es, wie sich der geriffelte Rand unter meinen Fingerspitzen anfühlt.
    Im Donut-Laden geht der Nachtbäcker mit mir nach draußen und versucht mich zwischen meinem Auto und den Mülltonnen zu küssen. Ich habe Angst. Im Laden habe ich ihn zu einem Freund sagen hören, dass er vorhat, einen Diamantring zu kaufen, es muss also jemanden geben, für den er ihn kauft. Irgendwas in mir fiel runter, ein Gewicht, bis ganz nach unten. Ein Diamantring. In den zwei Monaten, seit ich aus der Therapie bin, habe ich das mit dem Gehen rausbekommen, und ich weiß wieder, was ich mit den Armen tun muss. Ich kann kleine Gespräche führen. Aber dies ist eine unerwartete Demütigung. Ich bin so einsam, dass ich nicht klar gucken kann. Und als dieser Mann mich küsst, meint er damit einen kleinen Kuss. Eine Einführung zu mehr. Womit ich nüchtern nur wenig Erfahrung habe – das Gegenteil zu betrunkenen Küssen. Ich gebe mir zu viel Mühe, versuche, den Diamantring zu verdrängen. Der Nachtbäcker sagt: »Immer mit der Ruhe. Ich will dir nicht wehtun.« Anscheinend deutet er meine Aggressivität als Angst. Ich habe das Gefühl, rückwärts durch das geöffnete Fenster eines Autos zu fallen. Das Gefühl, das ich als Kind hatte, wenn jemand anders für mich sprach. Das Fallen ins Dunkle. Ich weiß nicht, wie ich wieder rauskommen soll. Der Nachtbäcker sagt: »Am Montag arbeite ich nicht – komm am Dienstag.«
    Als ich das letzte Mal in den Donut-Laden gehe, sagt der Nachtbäcker: »Ich hatte einen schlimmen Tag. Aber jetzt ist es besser, weil du da bist.« Er umarmt mich und küsst mich ein bisschen. »Ich habe dich heute knapp verpasst«, sagt er. »Ich hatte die Uhr nicht richtig gestellt.« Er möchte, dass ich mit ihm nach Hause komme, möchte mit mir rummachen. So drückt er es aus. »Ich sehe, du vertraust mir nicht.« Also wirklich, was gibt es zu vertrauen, wenn einer so direkt ist? Das hübsche Mädchen kommt in den Laden. Vielleicht ist der Diamantring für sie. Sie versammelt die Serviererinnen um sich, lacht, geht den ganzen Laden ab, markiert ihr Revier.
    Ich vermisse den längst verschwundenen Sugar-Mountain-Mann, wie er mich gesehen hat. Seine schönen Lieder. Aber der Nachtbäcker, Bill, das Trinken – das führt eher zu Rückfällen. Ich erinnere mich, wie ich einmal einen Bleistift auf dem Tisch gesehen und mich ohnmächtig gefühlt habe. Als könnte ich ihn nicht in die Hand nehmen. Eine überwältigende Passivität. Ich hätte jemanden gebraucht, der mir den Stift gab. In dem Sommer damals gehe ich nach der Arbeit und den Treffen nach Hause und lese, schreibe. In meinem Zimmer ist es so heiß, dass ich nur im Unterzeug schreibe. Wenn ich die Schreibmaschine benutzen will, muss ich den Ventilator aus der Steckdose ziehen, weil es nur zwei Steckdosen gibt, und eine ist für die Lampe. Ohne Lampe kann ich beim Schreiben nicht sehen. Und so sitze ich da, Abend für Abend, schweißglänzend und brummend von all dem Kaffee, Pulverkaffee und gebrautem Kaffee, so zugedröhnt, wie es ohne Drogen geht. Ich bleibe bis in die Morgenstunden wach und schreibe, beschwöre das Papier, als wäre es ein Telefon, ein Telex, ein Telegramm, als müsste ich nur schreiben, dann würde ich gehört.

Broadway
    Nach meiner Entlassung aus der Therapie im Februar 1984 wechsele ich fürs Erste in den weniger hektischen Naturkostladen. Ich glaube, Mrs. Collins möchte mir den

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