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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Tommys dritter Geburtstag. Ich erinnere mich, dass ich gleich nach seinem Tod zu einem Treffen gegangen bin. Dort saß ich an einem Furnierholztisch und war nie länger als ein, zwei Tage nüchtern, einmal war ich sogar voll betrunken zu einem Treffen gekommen. Ich erzählte den anderen, ich hätte im Wald getrunken, es hätte wie ein anderes Land ausgesehen – eine Wiese, Bäume, keine Menschen. Ich sagte: »Als ich nach Hause kam, haben sie mir gesagt, dass mein Sohn gestorben ist.« Mir war bewusst, dass es klang, als wäre er gestorben, während ich unterwegs war und mich betrunken hatte, aber er war schon gestorben, ehe ich das Haus verließ. Ich war nicht betrunken, als er starb, aber die Leute im Raum sahen mich an, als wäre das der Fall gewesen – mit erstarrtem Mitleid, wie man es für jemanden empfindet, der in Flammen steht und den man nicht berühren will, erleichtert, dass man es nicht selbst ist. Eine beispielhafte Lektion. Alle schienen sehr weit entfernt; als würde ich aus einem Fernsehgerät zu ihnen sprechen.
    Bei den Treffen lernte ich, Kaffee zu trinken. Ich war so nervös, dass ich auf meinen Händen sitzen wollte, und an den weißen Styroporbechern konnte ich mich festhalten. Der Kaffee aus der Urne war chemisch bitter, als wäre er aus Vulkanasche gebrüht. Ich hatte zudem gelesen, dass heiße Getränke in Styroporbechern krebserregend wirken konnten. Aber ich trank den Kaffee in kleinen Schlucken, wie einen Cocktail, wie ich Alkohol niemals trank. Die kleinen Schlucke machten den Geschmack erträglich, der vorherrschende Geschmack bloß Wärme.
    Die Lichter im Donut-Laden werden immer heller, je öfter die Serviererin mir Kaffee nachschenkt. Wieder in dem Laden zu sein ist so, als würde ich das Haus betreten, in dem ich früher gewohnt habe. Ich weiß, wie sich der Zementboden unter meinen Füßen anfühlt, die Ecke im Hinterzimmer, wo ich in meiner Pause einen Mais-Muffin aß. Meine Füße baumelten unter der Theke. Auf dem gepolsterten runden Sitz konnte ich mich im Kreis drehen. In letzter Zeit versuche ich, das Gehen wieder zu lernen. Ich habe vergessen, was man mit den Armen macht, mit dem Gesicht, der Stimme. Ich bin seit fast sechs Wochen trocken. Seit zwei Wochen aus der Behandlung entlassen. Ich kann ja nicht die Leute anstarren, wie sie gehen, also gehe ich allein ins Kino und versuche zu lernen, wie man sich benimmt. Ich sehe mir
Hotel New Hampshire
an, wo Franny in einen Trockner geschubst und vergewaltigt wird. Danach trägt ihr Bruder sie nach Hause und sagt: »Wenn jemand dich anfasst und du willst nicht, dass er dich anfasst, dann hat er dein inneres Ich nicht angefasst.« Noch heute kann ich keine Trocknertür aufmachen, ohne an sie zu denken.
    In dem Naturkostladen hatte Mrs. Collins mir einen Monat freigegeben, damit ich die Behandlung machen konnte. Sie hat mir meine Stelle bewahrt. Jetzt bin ich zurück, in dem kleinen Laden im Orlando-Einkaufszentrum. Eine der anderen im Laden, Carey, überredet mich, mit dem Cousin ihres früheren Freundes auszugehen. Gryf. »Er hat ein paar raue Kanten«, sagt sie. Es ist ein Blind Date. Wir gehen in eine Bar. Ich trinke nicht, aber ich zähle die trockenen Tage.
    Ich trinke nicht. Gryf und ich sprechen über den Strand. Er sagt: »Ich gehe zum Playalinda. Es ist ein Nacktbadestrand, und man würde erwarten, die Leute beim Vögeln zu sehen, aber so ist es gar nicht.« Er sagt nicht »Vögeln«, sondern formt stattdessen mit zwei Fingern einen Kreis und steckt den Finger der anderen Hand hindurch. Ich sage nicht, dass ich nicht erwarte, am Strand Leute beim Vögeln zu sehen. Er sagt: »Ich arbeite mit vollem Einsatz, und ich spiele mit vollem Einsatz, so ist das.« Er sagt das zwei Mal, langsam. Als er mich nach Hause fährt und ich aus dem Wagen springe, guckt er überrascht. Es ist eine Enttäuschung, dass Carey denkt, er würde zu mir passen. Ich frage mich, wie sie mich sieht – wie die Leute mich sehen –, als wäre ich für die anderen nicht im Entferntesten die, die ich zu sein glaube.
    Am nächsten Abend gehe ich wieder in den Donut-Laden. Der Nachtbäcker sagt: »Ich warte jeden Abend, dass du kommst.« Er sagt: »Du riechst nach Aprikosen.« Das hat mit der Arbeit zu tun – kleine Fläschchen aromatisierten Öls, das man mit einem Stäbchen aufträgt. Ich drehe meine Hand um, hebe ihm mein Handgelenk entgegen. »Mach morgen blau«, sagt er. »Komm zu mir nach Hause, den ganzen Tag, wir gehen schwimmen.« Das geht

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