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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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anderen zu helfen. Meistens scheint es, dass jeder andere besser geeignet wäre – ganz gleich, was die Aufgabe ist. Aber Mike braucht mich wirklich. Da ist ein Ort, an dem niemand ist. Im Laden habe ich zwei Pep-Power-Drinks gemacht, Proteingetränke, und ihm in einen Beutel gepackt. Er hat gesagt, sie seien noch besser als Kaffee. Ich habe ihm eine Geburtstagskarte mitgebracht. Er ist zweiunddreißig. Bei der Feuchtigkeit tun seine heilenden Knochen weh.
    Seit seinem Sturz bin ich noch mehr allein. Und rede nicht. Bei der Arbeit hatte ich einen Zusammenbruch, ich ging auf die Toilette. Es war Hyperventilation. Ich glaube, ich muss jemanden bitten, meine Betreuerin zu sein. Als ich M. J. frage, sagt sie, sie würde mir bei meinem Vierten Schritt helfen. Sie sagt: »Es ist schön, dich lächeln zu sehen.«
    Zu Hause lege ich den Kopf auf die summende Schreibmaschine und versuche, Energie zu sammeln. In der Nacht träume ich, ein Kollege, der mich nicht mag, schenkt mir einen halben Liter Wild Turkey. In dem Traum trinke ich zehn Zentimeter direkt aus der Flasche.
    Im Geschäft kommt Carey aus der Winter-Park-Filiale vorbei. Wir mimen die Krankheiten in
Back to Eden,
dem Nachschlagewerk für Heilkräuter und Hausmittel. Abwechselnd lesen wir die Symptome vor, bis wir die Krankheiten auswendig kennen. »Hysterie« und »Hydrophobie« (hervorgerufen durch Wolf- oder Rattenbiss) sind die besten. Wir gehen in den Gängen auf und ab, und wenn wir ein Produkt entdecken, das Wasser enthält, würgen wir, winden und krümmen uns, um die »Furcht vor Wasser« darzustellen, die von Wolf- und Rattenbiss hervorgerufen wird. Die Chefin, mit hochhackigen Schuhen und Schulterpolstern, schreitet wie eine Amazone und schwenkt ihre Kanonenkugelbrüste hin und her. Kopf hoch, Kinn raus. Der Laden ist kaum groß genug für sie. Als das Telefon klingelt, sagt sie quietschend »Hallo!«, in einer Haltung wie in einer Fernsehshow. Irgendwann packt sie mich beim Ellbogen und sagt: »Ich finde schon was, was du sauber machen kannst.« Den ganzen Tag lang frage ich Menschen, meistens fremde: »Kann ich Ihnen helfen?« Es ist ein kleines Geschäft. Ich weiß, wo alles zu finden ist. Gewöhnlich wollen die Kunden ein besseres Gefühl haben. Endlich einmal komme ich mir nützlich vor. Ingesamt arbeite ich über zehn Jahre in dem Naturkostladen, in den verschiedenen Filialen. Es gibt mir Halt, hilft mir, alles durchzustehen. Auch wenn ein Kunde ausfallend wird oder ich Streit mit einer Kollegin habe, ich kann mich auf den Laden verlassen. Ich bin in der Welt, ich habe eine Aufgabe. Fünf Tage in der Woche, manchmal sechs komme ich zur Arbeit, ich rede mit den Menschen. Es ist eine Erleichterung, dazuzugehören.
    Im Juli 1984 , ich bin seit einem halben Jahr trocken, schenken mir meine Kollegen Michelle und Pat einen Kaffeebecher. Früher lebte Mike in der Nähe dieses Einkaufszentrums, im Wald. Das war, bevor ich ihn kennenlernte. Er ernährte sich aus dem Mülleimer von McDonald’s und richtete es so ein, dass er die Sachen holte, wenn sie gerade weggeworfen worden waren. Er hatte einen Freund, der mit bloßen Händen Fische im Fluss fangen konnte. Er spricht gern über Rotwild. Seine Geschichten sind wie Fabeln, Mythen, die er wiedergibt. Ich weiß nicht, wie viel von der Seele eines Menschen normalerweise sichtbar ist, welcher Anteil in einer Hinterkammer verborgen bleibt, aber Mike scheint hauptsächlich aus Seele zu bestehen. Sein Körper eine schlaksige Hülle. Wenn er mir zuhört, ist es fast, als wäre ich in einer anderen Welt. Manchmal versuche ich, besser zuzuhören, so wie er das macht – den Kunden, ihren Geschichten.
    Einmal in der Woche kommt ein großes, freundliches Mädchen in den Laden und kauft Karob-Sterne. Eigentlich ist sie schüchtern, aber sie redet immer viel. Ich wog ihr ein Pfund Sterne ab, und sie sagte: »Auf der 436 gibt es so viele Unfälle. Es ist eine echte Blutspur.« Als ich nach Hause fuhr, waren hinter mir Feuerwehrautos, auf dem Highway 50 hatte es einen Unfall gegeben. Dann, auf der 436 , werde ich von hinten angefahren und auf den Wagen vor mir geschoben. Mein Auto hat einen Totalschaden. Der hintere Teil ist zerknautscht. Meine Tür lässt sich nicht öffnen. Mein Nacken tut weh, das eine Bein auch, aber niemand ist ernstlich verletzt. In dem Auto, das auf meins draufgefahren ist, sitzt ein kleiner Junge. Der Fahrer war Soldat bei der Marine, er hatte sich das Auto von einem Freund geborgt. Aber woher

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