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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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der Junge war, habe ich nicht verstanden. Er ist höchstens acht Jahre alt. Er befürchtet, dass ich seinen Namen wissen will. Der Junge sagt immer wieder: »Ich bin auf Bewährung.« Auf Bewährung? Er trägt eine Hose in Tarnfarben, passend zu dem Hemd des Fahrers, aber es sieht nicht so aus, als wäre der Mann ein Freund oder Verwandter. Der Junge hat langes, ungekämmtes blondes Haar und schräg stehende Augen. Er sitzt neben mir auf dem Bordstein und raucht, er sagt: »Einmal habe ich meine Mom nervös gemacht, als ich das Radio lauter gestellt habe. War ein Unfall mit drei Autos.« Er zieht an der Zigarette. Ich finde, ich sollte etwas über sein Rauchen sagen. »Danach hat mein Dad das Radio ausgebaut.«
    »Du solltest nicht rauchen«, wage ich zu sagen. Die Luft ist voller Wasser, mein Haar wird länger.
    »Mein Dad sieht ja, dass ich rauche, soll er doch versuchen, mich daran zu hindern«, sagt der Junge. Die Polizei lässt sich Zeit. »Ich habe heute Abend nichts vor«, sagt er. Anscheinend freut es ihn, dass er in einen Unfall verwickelt ist. Er stiert mich an und sagt: »Du siehst nicht aus, als hättest du Angst.« Er sagt: »Meine Mom war ganz fertig.« Wohin ich auch gehe, er läuft hinter mir her. Unsere Herzen schlagen auf einer seltsamen Umlaufbahn. Es ist fast elf Uhr abends, und der Junge wandert am Highway auf und ab und raucht. Er fragt mich: »Gehst du auf die Winter Park High School?« Er sagt: »Ich wollte mit der Schule aufhören, aber dann habe ich es mir anders überlegt.« Kann ein Achtjähriger mit der Schule aufhören? Als jemand kommt, um mich nach Hause zu bringen, sagt der Junge: »Es tut mir alles so leid.« Er steht allein da und sagt: »Bis dann.« Mir fällt plötzlich auf, dass niemand gefragt hat, ob mit dem Jungen alles in Ordnung sei.
    Es war, als hätte mich ein Geist angefahren, gestern Abend. Der Mann, der mich angefahren hat, der Besitzer des Autos, die Versicherungsgesellschaft – sie alle sind wie seltsame Geisterstimmen. Die Männer verleugnen sich gegenseitig. Jemand gibt mir einen Kaktus in Pflege. Drei Pflanzen habe ich schon umgebracht. Aber ich bin froh, mit bloßen Händen in der Erde im Garten zu buddeln, in dem Versuch, den Kaktus zu retten. Als ich die Erde in meiner hohlen Hand habe, denke ich daran, dass ich Teil davon bin, und die Schrammen und Schmerzen, das kaputte Auto, der Geisterfahrer und seine Versicherung – sie alle verblassen im Hintergrund.
    Catherine aus dem Dry Dock kommt zu dem Haus am Broadway. Sie weint, als ich ihr erzähle, dass ich den Halb-Jahres-Chip bekommen habe. Sie sagt: »Ich mag dich richtig gern, können wir nicht Freundinnen sein?« Ich mag sie auch, ich weiß nicht, warum ich zurückweiche. Ich erzähle ihr nicht, dass ich das Grab meines Sohnes suchen möchte. Eine Handvoll Gras ausrupfen. Und dann, was damit tun? Es in der Hand halten, es in meine Handtasche stopfen, es mir mit den Fingern ins Haar kämmen? Die Grashalme kauen und runterschlucken? Mit den Fingernägeln tief in die Erde graben, wo sie fest ist, und sie unter den Fingernägeln sammeln? Und weiter graben, immer weiter, die ganze Nacht. Bis ich das Ding finde, wo sie ihn hineingelegt haben. Nicht Holz, vermutlich, wie heißt dieses Vinylzeug? Vielleicht ist das innen im Sarg. Es ist ein sehr kleiner Sarg. Ein Kindersarg. Graben, bis ich zusammengerollt neben ihn passe. Dann die weiche Erde über mich schaufeln. Über meine Füße, über meine Knie, wie eine feuchte Decke am Strand. Wenn sich der Wind an der Küste erhebt und die Sonne untergeht. Man ist fast nackt, deshalb zieht man sich das Handtuch, vom Meerwasser feucht, über die Füße, über die Knie. Es wird so sein, als wäre man am Strand im Sand vergraben, nur dunkler. Die Arme benutzen, um die dunkle, schwere Erde bis zu meinem Hals zu schaufeln, bis zum Kinn. Dann von meinem Haar nach unten. Kühl auf der Stirn. Über meine Augen, die Falte zwischen den Augen. Ich meine Tommy weinen zu hören. Ich könnte
schwören,
ich hätte ihn weinen gehört. Vielleicht ist er nicht in dem Sarg. Vielleicht muss ich weiter suchen. Ich könnte
schwören,
ich hätte ihn gehört – so süß. Wenn ich Catherine etwas davon erzählte, etwas Wahres sagte, vielleicht käme ich ihr dann näher.
    An Tommys Geburtstag telefoniere ich mit Wendy von der Arbeit. Sie weiß Bescheid. Ihr kleiner Sohn fängt an zu singen. »Was singt er da?«, frage ich. Sie ist verlegen, will es mir nicht sagen. Sie sagt: »Das ist einfach

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