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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Wiedereinstieg mit dem ruhigeren Tempo erleichtern. So kann ich jeden Abend den Highway entlang zu dem Treffen am Broadway fahren. Vom Hintereingang führt eine Treppe zu einer Tür und einer Theke, wo ich für einen Quarter eine Tasse Kaffee kaufen kann. Wolken von Tabakrauch weisen den Weg zu drei Räumen mit Stühlen. Wenn ein Raum zu voll ist, meldet sich ein Ehrenamtlicher dazu, in einem der anderen Räume ein Treffen zu leiten. Ich habe Asthma, da ist es am besten, wenn ich nicht neben einem Raucher sitze. Aber die erkennt man nicht unbedingt, und einen der leeren Plätze muss man ja nehmen. Und dann zündet sich der Sitznachbar eine Zigarette an. Schwarze Aschenbecher wie Klauenhände auf dem Tisch, dem Teppich.
    Jedes Mal bevor ich mit Sprechen an der Reihe bin, habe ich einen Anflug von Panik. Wenn ungefähr noch sieben Leute vor mir sind, fängt mein Herz an zu rasen. Wenn ich Glück habe, kann ich sagen: »Ich heiße Kelle. Ich bin Alkoholikerin, und ich gebe das Wort weiter.« Einmal versuche ich zu sprechen, aber es geht nicht. Stattdessen weine ich, und der Leiter lässt mich eine Weile weinen, als wären das die Worte, die ich sagen wollte. Geht dann zum Nächsten.
    Mike raucht. Er wirkt nie nervös, wenn er bei den Treffen spricht. Groß, mager, rothaarig sitzt er an die Wand gelehnt oder am Tisch. Ich könnte schwören, dass über seinem Kopf ein Licht angeht und sich über ihn ergießt. Ich konnte ihn hören. Auch andere haben es gesehen. Nach dem Treffen umringen ihn die Leute. Aber ich warte. Ich habe nichts vor. Irgendwann dreht der Mann hinter der Kaffeetheke das Licht aus und sagt: »Zeit, nach Hause zu gehen.« Mike und ich stehen dann auf der Veranda oder auf dem Gehweg, und wir reden. Oder wir gehen in das International House of Pancakes und reden dort stundenlang. Die meiste Zeit spreche ich. Erzähle ihm alles, was ich nicht sagen kann. Abend für Abend. Ich weiß, es ist egoistisch, aber ich will leben. Ich brauche ihn.
    Eines Abends sagt er zum Schluss zu mir: »Arbeite morgen nicht zu viel. Tu das, was nötig ist. Aber arbeite nicht zu viel.«
    Am nächsten Abend ist er nicht in dem Haus am Broadway.
    T. sagt: »Hast du gehört, was mit Mike passiert ist?«
    »Mit Mike?« Ich muss seinen Namen hervorzerren, ich kann ihn ja nicht sicher in mir behalten. Am Abend zuvor hatte er mir erzählt, er sei besorgt. Er hatte eine Arbeit vor sich, aber eine, die er noch nie gemacht hatte. Äste von Bäumen absägen. Ich wusste nicht, dass es bedeuten würde, dass er hoch in den Baum klettern musste, dass einer der Äste auf ihn fallen würde. Die Kettensäge fiel ihm auf den Nacken, und er fiel vom Baum. Beide Arme gebrochen, sein Gesicht zerschmettert. An dem Abend war er in der Notaufnahme und wartete auf ein Bett auf der Intensivstation. Dann die Operation, Nägel in Ellbogen und Handgelenken, den Schädelknochen, der Mund mit Draht befestigt, ein Monat im Krankenhaus. Es war, als wäre sein Gesicht runtergerutscht. Als wäre ein Gesicht eine Maske und könnte verrutschen. Der Mund zerstört. Der Mund, den T. am Abend zuvor, am Ende des Treffens, geküsst hatte. Ich hatte zugesehen, wie ihre Lippen sich genau trafen, und T. sagte, sie küsse gern und viel, sie küsse lieber als alle anderen, die sie kenne, manchmal würde sie Leute anrufen, nur um sie übers Telefon zu küssen.
    Monatelang hat Mike Nägel in seinem Schädel, sein Mund ist mit Drähten verschlossen, beide Arme sind in Gips. Er muss all seine Nahrung durch einen Strohhalm trinken. Keine Arbeit, keine Versicherung, keine Familie. Nur wir. Leute nehmen ihn zu sich. Manchmal hole ich ihn ab, und wir gehen zu einem Treffen. Ich sehe, dass er nicht nach Hause will, er will nicht seine vier Wände anstarren und darauf warten, dass seine Knochen wieder zusammenwachsen. Wir gehen also Kaffee trinken. Mike kann mich beruhigen, die Angst, die in mir rumort, mit nur einem Blick. Einmal sagt er: »Ich bin ehrlicher, wenn ich mit dir rede, als wenn ich mit mir selbst rede, weil ich dir nichts erzählen möchte, das nicht wahr ist.«
    Am Samstagabend habe ich ihn abgeholt, bin mit ihm zu dem New-England-Treffen gegangen. Er ist so groß, so knochig, mit so vielen gebrochenen Knochen, dass ich nervös bin, als ich ihm aus meinem kleinen Auto helfe. Die Nägel in seinem Schädel werden mit einer Art Frankenstein-Klemme festgedrückt. Ich möchte nicht an ihm ziehen, ihm nicht wehtun. Das Treffen hat ihm gutgetan. Ich bin es nicht gewöhnt, einem

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