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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Zufall.« Dann sagt sie: »Es ist sein Lieblingslied. ›Happy Birthday‹.« Sie schweigt eine Weile, und ich kann das Singen hören. Später will sie mich besuchen, in meiner ersten schönen Wohnung. Weiß, im ersten Stock. Offener Kamin. Ich gehe nach unten, setze mich auf die Stufen und warte auf sie. Ihr Sohn rennt auf mich zu, wo ich sitze. Legt mir seine beiden Spielzeugautos in den Schoß und lacht. Es hilft, dass die Kinder mich mögen, Wendys Sohn, der Junge bei dem Unfall. Ich bin froh, dass sie zu mir kommen.
    Eines Abends, es ist 1989 , arbeite ich im Laden und lese in der neuen Ausgabe vom
East West Journal
einen Artikel über Beziehungen. Darin wird ein Buch erwähnt, »Women, Sex, and Addiction: A Search for Love and Power«, von Charlotte Davis Kasl. Ich bestelle das Buch, die gebundene Ausgabe. Es heißt darin, dass Scham die Wurzel von Sucht sei, und Gewalt öffne das Tor zur Flucht. »Die meisten dieser Frauen wollen nicht wirklich sterben, sie wollen den Schmerz töten.« Die Verfasserin sagt, wenn ein Süchtiger gesund werden will, muss er seine Selbstmordfantasien und -drohungen aufgeben und »sich zum Leben bekennen, in guten wie in schlechten Zeiten«. Eine Heirat mit dem eigenen Leben.
    Ich versuche es. Ich höre ihr zu und weiß: Gut, mach die Tür zu. Ich sehe die Tür am Ende des Flurs, braunes Holz. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen. Ich schließe die Tür. Ich drehe mich um, wende den Blick in die andere Richtung. In mein Leben. Ich bin in meinem Wohnzimmer, das Buch in der Hand, aber ich sehe es nicht mehr, ich sehe den Flur und die Tür, ich höre die Stimme, die helfen will. Etwas in mir verändert sich, wie ein großes Lichtviereck, als würden die Zimmer in mir von selbst an den richtigen Platz rücken. Nicht mehr bedroht. Als würde mein Körper verstehen, dass ich bleibe.
    Wochen später sieht die Tür dahinten winzig aus – ich kann sie sehen, ohne mich umzudrehen. Je weiter ich gehe, desto heller wird es in dem Flur. Ich muss daran denken, wie ich in der Tangerine Avenue auf dem Bordstein gesessen habe, als ich elf war, und wusste, dass es vor mir einen hellen Ort geben würde, wenn ich erst mal erwachsen war.
    2009 , drei Jahre nachdem ich aus Orlando weggezogen war, ging ich noch einmal zu dem Haus am Broadway zu einem Treffen. Rauchen ist jetzt nicht mehr erlaubt. Bevor ich 2006 wegzog, an die Küste, war ich auf den Parkplatz gefahren, weil ich dachte, das Treffen würde gleich anfangen. Aber ich ging nicht mehr oft genug hin und hatte mich in der Zeit geirrt. Ich traf jedoch Mike und Ray, die miteinander redeten. So konnte ich mich verabschieden. Ray sagte: »Lass mal von dir hören.« Das hatte ich nicht getan.
    Gleich beginnt ein Treffen, Leute kommen an, parken zwischen den Bäumen, gehen zur Tür. Ich halte nach Mike Ausschau. Er ist immer leicht zu entdecken. Er ist so groß, außerdem konnte ich ihn unter vielen Menschen erspüren oder er mich. Aber er ist nicht bei den Leuten draußen. Ich will reingehen, da sehe ich, dass Ray da ist. Ich umarme ihn, Ray, den ich seit damals kenne, als ich noch nicht trocken war, der gesagt hatte:
Lass mal von dir hören.
Ich freue mich so, ihn zu sehen. »Ist Mike hier?«, frage ich. Lächelnd. Er ist fast immer hier.
    »Es tut mir leid«, sagt Ray. Es steht auf seinem Gesicht, dass er es mir sagen wird. »Er ist gestorben.«
    »Was?«
    »Er ist gestorben. Krebs.« Ich stehe neben mir, kann mein Gesicht sehen, den offenen Mund. Ich starre Ray an. »Ich war bei ihm«, sagt er. »Im Krankenhaus.«
    »Warum hast du mich nicht angerufen?«
    »Niemand hatte deine Telefonnummer«, sagte Ray. Er hatte gesagt:
Lass mal von dir hören.
Er gibt mir keine Schuld.
    Ich habe ein Foto von Mike, mit einem Hai, den er am Pier gefangen hatte. Er strahlt. Er ist so stolz, ist stolz auf das Foto. Deshalb hat er es mir geschenkt. Einmal ist er verschwunden, das war, nachdem er geheiratet hatte und seine Frau gestorben war, nachdem er sein Versicherungsgeld an alle verteilt hatte, die was davon haben wollten, und er bankrott war und wegging und trank. Damals war ich an der Universität, nicht da. Als Mike nach Orlando zurückkam, sagte er: »Es ist schwieriger, wieder trocken zu werden, wenn man älter ist.« Er war in einem Rehazentrum. Das war 1996 . Ich unterrichtete damals drei Kurse, leitete eine Buchhandlung und arbeitete ehrenamtlich bei einer literarischen Organisation. Wenn ich von den verschiedenen Jobs nach Hause kam, war ich müde.

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