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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Und er rief jeden Abend an, redete stundenlang. Ich wollte duschen, essen, ausruhen. Ich hörte auf, ans Telefon zu gehen.
    Mike wurde wieder trocken, war wieder ganz am Anfang. Für den Rest seines Lebens war er trocken. In der ersten Zeit hatten wir dasselbe Datum, nur dass seins ein Jahr vor meinem lag. Zur Feier hatte die Gruppe für uns beide einen Kuchen gekauft, und ich meine mich an Kerzen zu erinnern, aber das kann nicht stimmen, warum sollte es Kerzen gegeben haben? Aber da war eine Helligkeit. Das Zimmer war voller Menschen, alle standen um uns herum und wünschten uns alles Gute. Es kann doch nicht sein, dass er Asche in einer Urne in Rays Haus ist. Ich sehe ihn noch vor mir. Als ich Mary davon erzähle, meiner Betreuerin aus Orlando, sagt sie: »Mike ist nicht Asche.« Ich schäme mich, dass ich das gedacht habe, bin bekümmert, dass ich mich so weit von Mike entfernt habe. Und vergessen habe, dass er nicht verbrennbar ist, unverbrennbar, unverbrannt.
    Als ich Ray am nächsten Morgen um acht Uhr am Pier treffe, sagt er: »Du bist die Einzige, die ich gebeten habe zu kommen.« Es ist freundlich von ihm, so gibt er mir die Gelegenheit, mich zu verabschieden. Seit über zehn Jahren haben Ray und ich uns kaum gesehen. Ich weiß nicht, ob wir früher jemals miteinander telefoniert haben. Aber nach dem Treffen, bei dem ich von Mikes Tod erfahren hatte, rief er mich an. Ray sagte, wir könnten uns Samstag oder Sonntag treffen, was mir besser passte. Ich weiß, dass er nervös ist; er nennt mich »Ma’am«. Er kennt mich seit siebenundzwanzig Jahren. Er hat mich immer nur Kelle genannt.
    Ein paar Männer stehen schweigend an den Ecken des Piers, davor das Meer. Ray hat einen Rucksack, er macht ihn auf. Die ganze Zeit hat Ray Mikes Asche in seinem Haus gehabt. Er macht eine Plastiktüte auf. Ich hatte mir vorgestellt, wenn eine Leiche verbrannt wird, ist die Asche schwarz, so wie die von einem Haus oder einem Baum, aber seine Asche hat die Farbe von Sand. Sechs Pfund, das Gewicht eines Babys. Die Sonne steigt höher. Ray erzählt, Mike und er hätten hier den ganzen Tag gesessen und geangelt, auch bei Regen, auch bei Nacht. Sie mochten gar nicht wieder gehen. Ich weiß genau, was er meint, was es bedeutet, sich vom Meer abzuwenden. Als Ray in den Beutel hineingreift, könnte man denken, er greife in den Körper unseres Freundes, wo alles schlüpfrig ist – Herz, Lungen. Er holt eine kleine Handvoll Asche heraus. Wenn ich könnte, würde ich auch hineingreifen, die Knochen in seinem Gesicht berühren, aber es ist zu viel. Ich weiche vor Ray zurück.
    Als Mike im Krankenhaus war und im Sterben lag, war sein Zimmer, so berichtet Ray, immer voll von Besuchern. Mike wusste, dass er Krebs hatte, aber er hatte es niemandem erzählt, wollte keine Behandlung. Als er zu Hause zusammenbrach, war es Ray, der kam und ihn ins Krankenhaus brachte. Der bei ihm blieb. Als Ray die Asche auf der anderen Seite des Piers verstreut, gehe ich mit Abstand hinter ihm her. Asche weht um seine Beine. Einen Abend hat Mike mir die Stirn geküsst. Wir waren mit meinem Auto irgendwo hingefahren, und er machte die Beifahrertür auf, um auszusteigen, wandte sich um. Als er mich küsst, spüre ich, dass er mich liebt, dass er mich wertschätzt, für gut hält. Ich versuche den Menschen zu sehen, den er sieht.
    Ich muss mir die Hand gegen die Sonne vor die Augen halten. Rays T-Shirt ist schweißdurchnässt. Er geht zu der Bank, macht den Rucksack auf und nimmt den Beutel heraus. Als er die Asche über den Rand des Piers ausgießt, in die Tiefe von zweihundert Metern, erheben sich Mikes Knochen. Phosphoreszierend. Wie die Ringe um einen Planeten. Was ist ein Gebet? Sollte ich ein Gebet sprechen? Vielleicht sind Ray und ich zusammen ein Gebet. Die Surfer, die Männer an den Ecken, wir alle sehen das Leuchten über dem Wasser. Es versinkt wie ein Fluss im Meer. Mach’s gut, du Lieber, sage ich in mir drin. »Mary sagt, das ist er nicht«, sage ich zu Ray. Ray sagt: »Mike hat die Welt immer leicht getragen.« Er blickt über das Meer, zum Horizont. »Mir gefällt, wie es sich öffnet«, sagt Ray. Sich abzuwenden ist schwer. Er umarmt mich zum Abschied so oft, dass es ist, als würden wir uns nie trennen.

Spiegel
    In Florida, besonders im August, regnet es, als würden Eimer ausgeleert, der Regen fällt aus sonnigem Himmel. Man kann in den Regen reingehen und wieder raus. Feuchtigkeit ein Schimmer auf Haut und Haaren. Die wässrige Luft schnürt

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