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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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füttern«, sagte eine Kundin. Ich aß, aber manchmal war in mir ein solches Entsetzen, dass Essen wehtat. Ich kam nicht zur Ruhe. Die Treffen halfen, und das Licht beim Fahren. Immer wenn schwere Lasten von mir abfielen, hatte ich nicht gewusst, dass ich sie getragen hatte. Was es für Lasten waren.
    Alle meine Geliebten lerne ich im Winter-Park-Naturkostladen kennen, einen nach dem anderen. Es ist leicht für sie, mich anzusprechen – ich bin jeden Tag im Laden. Bin fröhlich, packe ihre Einkäufe in Tüten. Bin ihnen so vertraut, dass sie denken, sie kennen mich. Einer meiner ehemaligen Geliebten vom Winter Park, ein schöner Mann, steht an der Kasse. Ich bin an der anderen Kasse, mein Rücken ihm zugekehrt. Er sagt: »Kelle hat Sommersprossen auf dem Rücken – es muss Sommer sein.« Er sagt es so, als würde er mich vermissen. »Ich fliege im Sommer nach Frankreich«, sagt er. Er ist Architekt und baut etwas. Zu dem Zeitpunkt habe ich meine Wohnung verloren und wohne bei Fremden, die ich über die Zeitung gefunden habe, in einem Haus mit drei Schlafzimmern. Aber ich möchte allein wohnen. Ich weiß, dass es manipulierend ist, dass ich keine gute Mieterin bin, ein Risiko, aber ich sage: »Ich könnte auf dein Haus aufpassen. Ich könnte deine Katze versorgen.«
    »In Ordnung«, sagt er. Ich bin schockiert, dass er einwilligt. Ich bin eine sehr schlechte Haushälterin. Aber er kennt mich noch nicht so lange. Er hat nie mit mir gelebt. Wir hatten uns getrennt, weil ich mich in einen anderen Kunden im Naturkostladen verliebt hatte, in einen Mann, der Buntglas herstellte. Als ich mit dem Architekten zusammen war, sagte er: »Ich möchte, dass es ernst ist zwischen uns.« Es hatte sich so geplant angefühlt, als wäre unsere Beziehung ein Haus, das er baut. Als er fragte, was ich empfand, griff ich in einen leeren Raum. Er war schön. Aber penibel, vorsichtig. Ich wollte die Dinge durcheinanderbringen. Einmal, als wir zusammen waren, hatte er vergessen, den Müll runterzubringen. Wir waren schon im Bett, beim Einschlafen. »Ich gehe«, sagte ich. Und warf die Decke zurück. Ich ging nach unten, auf die Terrasse, zerrte den Mülleimer durch das Gras, unter den Bäumen her, zum Bordstein. Ich sah ihn oben am Fenster, er sah mir zu, wie ich nackt auf der Straße stand.
    Sein Haus ist ein Baumhaus, drei Stockwerke, aber nur breit genug für eine Person. Er hat es selbst entworfen. Ich soll für Strom und Wasser bezahlen und eine geringe Miete. Den Raum oben nenne ich die Baum-Kathedrale, weil die Decke wie in einer Kirche ist und die Wände aus Fenstern, umgeben von Bäumen. Unter dem Spülbecken in der Küche finde ich sein Testament – nichts für mich, nur mein Name auf der Liste der »Personen, die zu benachrichtigen sind«. In einem großen Tupperware-Container finde ich zweihundertsechsunddreißig Dollar und sechzehn Cent in Münzen. Ich leihe sie mir, bis der Exfreund zurückkommt. Ich verpacke die Münzen in Rollen und kaufe für die nächsten Wochen Lebensmittel ein. Anfangs geht es gut, aber bei den Rollen mit den Dimes verdreht die Kassiererin die Augen, die Pennys nehmen sie nicht. Der Exfreund mag den Song von van Morrison nicht, den ich auf den Anrufbeantworter aufnehme. »Jedes Mal, wenn ich anrufe, ist er lauter«, sagt er. Die Katze schläft auf meiner Brust. Ich verkippe versehentlich dunklen Traubensaft auf seiner Couch. Der Toaster geht in Flammen auf, zwei Feuerwehrleute kommen.
    Aber die meiste Zeit ist es ruhig. Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich für mich bin. In dem Jahr war mein Großvater gestorben. Ich nehme seinen Schaukelstuhl mit in das Haus des Architekten. Laura, mit der ich arbeite, hilft mir, ihn ins Haus zu tragen. Manchmal vermisse ich meinen Großvater so sehr, dass ich nicht aufhören kann zu weinen. Hier ist niemand, der mich abhält. So geht es Stunden. Ich muss etwas berühren, was mein Großvater berührt hat, und sitze auf dem Boden, mein Gesicht in seinem Stuhl, die Arme um die Stuhllehnen. Braunes Polster kratzig an meinem Gesicht.
    Mein Großvater ist mir kurz nach seinem Tod im Traum erschienen. Es war noch im Krankenhaus, wir standen zusammen auf der Treppe. Er war verzweifelt – aber nicht meinetwegen. Er rief nach Nana. Stattdessen kam ich mit ihrer Schürze, die mit Obst – Orangenscheiben, Kirschen, Zitronen – bedruckt ist. Er hatte nur mich. Er war so groß, dass er sich weit herabbeugen musste, um mir seinen Kopf auf die Schulter zu legen und nach ihr

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