Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
Vom Netzwerk:
einem den Atem ab, und echter Regen ist eine Erleichterung. Als Erstes kündigt er sich in der Erde an, der trüben Erde, dann riecht die Luft nach Steinen. Auch die Steine lieben den Regen, sie wachen aus ihrem Schlaf auf. Es ist 1986 . Ich arbeite jetzt wieder in dem lebhaften Naturkostladen am Winter Park. Vermutlich denkt die Besitzerin, ich halte das aus. Ich bin vierundzwanzig. Über Mittag brauche ich eine Pause von dem ständigen Reden, von den Kunden und ihren Gesundheitsproblemen. Alle reden immer über ihren Körper. Leute bitten mich, ihre Augen zu deuten, ihre Gesichter. Bitten mich, ihnen bei einer Fastenkur, beim Abnehmen zu helfen, das Niesen wegzunehmen. Schlaf – viele Menschen haben Schlafstörungen. Die Menschen mit ernsten Krankheiten machen mir Angst – Krebs, Multiple Sklerose. Ich habe Bücher, Nachschlagewerke, aber keine medizinische Ausbildung. »Was soll ich essen?«, fragen sie. Eine Frau erzählt von ihrem sich entziehenden Freund, einem Arzt, von den Geschenken, die sie ihm kauft. Von ihrem Dickdarm. Sie spürt mich in einem Gang auf, wo ich mich verstecke und die Flaschen in den Regalen gerade rücke. Dauernd schwören Menschen dem Kaffee ab, als wäre es Diebstahl oder Brandstiftung. »Er leert die Adrenalindrüse«, sagt eine Frau, die nie älter zu werden scheint. Kunden gestehen, dass sie Zucker oder Milchprodukte verzehren. Ich sage: »Das macht nichts.« Vom vielen Zuhören wird mir schwindlig – ich vergesse zu atmen. Die Kunden streifen durch den Gang mit den Vitaminprodukten und sagen: »Was wäre denn gut für mich?« Manchmal sitze ich vor dem Laden, in dem Steinkreis, und blicke auf die gelben Blumen, auf ihr Halleluja.
    Der Naturkostladen ist vom restlichen Einkaufszentrum abgetrennt. Es ist ein langer, schmaler Streifen. Ich muss den breiten Parkplatz überqueren, um zum Einkaufszentrum zu kommen. Um ganz wegzukommen. Zu den Treffen am Broadway ging ich nicht mehr so oft, weil die Leute dort inzwischen sagten: »Hoffentlich erzählst du heute mal etwas von dir.« Oder: »Wir wissen, dass du was Interessantes zu erzählen hast.« Ich finde ein anderes Treffen, in einem kleinen grünen Haus, nicht weit von dem Winter-Park-Laden. Dort macht es nichts, ob ich spreche oder nicht. Es ist befreiend, einfach dabeizusitzen und zuzuhören.
    Als ich zwei Jahre trocken war, nahm ich mir eine Wohnung. Die schöne. Lebte dort allein. Die Stille half, die Tür, die ich zumachen und abschließen konnte. Zuerst hatte ich bei meiner Therapeutin gewohnt, der Frau, die das Alkohol-Therapieprogramm der Marine leitete. Sie hatte aus ihrem Zuhause eine Art Rehazentrum für Frauen auf dem Weg zur Heilung gemacht. Sie lebte dort mit ihrer Tochter, mir und zwei anderen Frauen. Das erste Mal war ich bei ihr zu Hause, weil ich zum Essen eingeladen war. Lasagne mit Hackfleisch. Ich war so nervös, dass ich mich nicht traute zu sagen, ich sei Vegetarierin. Ich aß es einfach. Sobald ich bei meinen Eltern ausgezogen und in der Obhut einer anderen war, wurde das Verhältnis zu meinen Eltern besser. Ich glaube, langsam vertrauten sie darauf, dass ich es schaffen würde. Und da ich nicht mehr bei ihnen wohnte, ließen ihre Versuche, mich zu kontrollieren, nach. Sie sahen mich nicht als Erwachsene, aber ich hatte aufgehört, Kind zu sein, und war in eine dauerhafte Adoleszenzphase eingetreten.
    In meiner Pause bei der Arbeit ging ich oft über den Asphalt zu dem stillen Einkaufszentrum. Etwas Schweres fiel von mir ab, wie ein Autoreifen. Ich merkte erst, dass es da gewesen war, als ich die Erleichterung spürte. Abends, wenn ich bei einem Treffen in dem grünen Haus war, konnte ich mit geschlossenen Augen die Hand von einem anderen halten und meine Hand in einem erleuchteten Raum sehen. Obwohl ich seit über zwei Jahren trocken war, vergaß ich immer wieder, dass dies mein neues Leben war. Ich war 1983 gestorben, und in diesem Leben konnte ich machen, was ich wollte. Manchmal, im Verkehr, erinnerte das Licht mich daran. Nicht die Ampeln oder die Sonne. Ich hatte meine Hände am Steuerrad, und es fühlte sich an, als hätte mein Auto kein Dach, und das Licht würde auf mich fallen, wie Regen, der auf mich herabströmte, oder wie eine Hand, die mich berührte. Wohlsein. Frieden. Normalerweise zitterte ich, ein kaum wahrnehmbares Beben, ein nervöses Summen. Ich wog so wenig, dass Kollegen und Kunden dachten, ich sei magersüchtig. Sie kamen mit Fragen, mischten sich ein. »Ich wollte Sie mit Hamburgern

Weitere Kostenlose Bücher