Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
zu weinen. Ich erzähle das Nana. Ich sage:
Er sucht nach dir.
Ich halte mich an seinem Schaukelstuhl fest, schaukle damit, bis es ein Boot ist. Wenn ich von dem Stuhl aufstehe und mir das Gesicht wasche, vergesse ich mich, als wäre mein Körper das Ufer. Vergesse, meine Seele zu vergessen. Ich gehe ins Badezimmer mit den gläsernen Wänden und stehe lange Zeit dort, sehe jemand anderen im Spiegel.
Später sehe ich das auf Gemälden – Neophyten, die ihre Seelen suchen. Auf jedem Bild ist ein japanisches Mädchen in ein Seidentuch gehüllt. Manchmal ist es nur ein Band, wie eine Schärpe um seine Taille. Und das Mädchen beugt sich nach vorn zu einem Handspiegel, sein Körper wendig wie ein Fisch oder eine Welle, und sucht seine Seele. Aber ich weiß nicht, wohin ich gucken soll, an dem Tag, als ich die Frau auf der rechten Seite des Spiegels sehe. Sie bleibt da nicht, aber der Spiegel ist die Stelle, wo ich sie sehe.
Sie sieht genauso aus wie das Ich, das ich immer sein wollte – Augen, Mund. Aber schön, ohne die Angst. Sie sagt: »Ich war immer bei dir. Die ganze Zeit, vorher schon. Ich werde noch lange hier sein.« Sie ist eine Gefährtin, so wie man Gefährte für sich selbst ist. »Ich bleibe, für immer.« Ich weiß nicht, wie sie zu mir spricht – eher Worte als Stimme. Aber sie ist meine Seele. Ich bin nicht allein. Nie.
Als der Architekt zurückkommt, ist er wütend darüber, wie es bei ihm aussieht, und sagt, ich muss gehen. Ein Mädchen aus dem Orlando-Laden sagt, ich kann bei ihrem früheren Mitbewohner wohnen, einem Künstler. Eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Abends kocht der Mitbewohner in seinem Schlafzimmer neben meinem. Es riecht lila. Manchmal schreit er, als würde er gefoltert. Am Morgen gibt er keine Erklärung. In der kleinen Küche steht er neben mir und gießt Orangensaft in ein Glas. Manchmal kommt auch sein Sohn und schläft in dem Zimmer, wo das Schreien war. Als seine Mutter kommt, möchte ich sagen: »Irgendwas stimmt nicht. Die Luft riecht lila. Ich weiß nicht, ob es nicht gefährlich ist.« Ich weiß nicht, warum das Mädchen aus dem Laden nie etwas über diese Merkwürdigkeiten gesagt hat.
Mein Mitbewohner bekommt einen Auftrag, in einer der Oben-ohne-Bars, Circus-Circus oder Booby Trap, zu malen. Ich glaube, er soll Kulissen malen – es ist unklar. Männer aus der Bar kommen in die Wohnung. Einer lässt sich von meinem Mitbewohner den Schlüssel geben. Ich suche mir eine neue Wohnung auf dem Weg zum College. Ich will in Orlando an der University of California in Florida meinen Bachelor machen. Die Wohnung ist billig. Kein Wandschrank. Aber es gibt einen Pool. Als ich meinem Mitbewohner sage, dass ich ausziehe, kommt der Mann aus der Bar mit einem Mädchen namens Kelly. »Sie schläft in deinem Zimmer«, sagt mein Mitbewohner. Ich werde durch jemanden mit meinem Namen ersetzt. Sie ist Tänzerin und kommt von außerhalb; sie wird in der Bar arbeiten. Einmal, ein paar Tage bevor ich ausziehe, gehe ich in das Badezimmer, das ich mit meinem Mitbewohner teile. Ich weiß nicht mehr, ob ich bewusst nach der Frau im Spiegel gucke oder ob sie einfach erscheint. Ich weiß, dass ich willens sein muss, sie zu sehen. Sie ist da, im Glas.
Ich sehe sie nicht nur das eine Mal und jedes Mal kürzer als zuvor. Aber jetzt ist ihr Gesicht mein Gesicht. Als wäre sie immer da, solange ich keine Angst habe zu gucken. Wenn ich sie sehe, weiß ich, dass niemand je verloren ist. Tommy ist nicht verloren. Auch mein Großvater nicht. Zum ersten Mal bin ich dankbar, dass ich lebendig bin, auf alltägliche Weise. Nicht nur ganz kurz. Ich dachte, ich müsste jemand werden, den ich zu billigen bereit wäre, den ich lieben würde. Ich wusste nicht, dass ich schon dieser Mensch war.
Noch einmal sehe ich sie, als eine Kollegin wegzieht und mir ihre Wohnung an einem See zur Miete überlässt. Still. Seltsam, in einer dieser Wohnungen hat Bill gewohnt – auf der anderen Seite des Parkplatzes ist seine Tür. Im Badezimmer ist ein großer Spiegel. An den Rand klebe ich Gedichte, aber in der Mitte ist Platz. Als ich die Frau im Spiegel sehe, kippe ich beinah um. Hinter mir ein kleines Fenster. Ein Stockwerk hoch. Als ich sie sehe, weiß ich nicht mehr, welches Jahr es ist. Das Grundlegende, ich kann mich nicht an Grundlegendes erinnern. Wo ich wohne. Der Fußboden neigt sich. Ich richte meinen Blick nach draußen, auf ein Straßenschild, um mein Gleichgewicht zu finden. Ich wende den Blick
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