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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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der Church Street in Rockland. Schöner roter Backstein, Hunderte kleiner Fenster, aufgereiht wie Karten, zerbrochen, wo etwas hineingeworfen worden ist. Die Fenster in der Fabrik könnten ein Kalender sein, mit einem Viereck für jeden Tag, so groß wie eine Briefmarke, der Rand perforiert, sodass man es nur aufklappen muss, um hineinzusehen. Man könnte hineinwandern. Ich habe nichts Fassbares: der blaue Strampelanzug, den ich ihm gekauft hatte, eine Rassel, ein Spielzeug, alles, was er berührt hat, nur mich nicht. Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich ihn in meinem Gesicht. Ich bin nicht hier, um mich zu verabschieden. Das habe ich schon gemacht. Ich bin hier, um Guten Tag zu sagen. Ich bin hier wegen des Nichtzweifelns. Der erste Schuh, der einfach aus Gras geflochten war. Die Blätter, die Menschen sich um die Füße gewickelt haben. Die Schuhe in Märchen, die magisch sind und Glück bringen sollen.

Hotline
    Einmal, ungefähr ein Jahr bevor ich schwanger wurde, in meinem ersten Jahr auf dem College in Massachusetts, nehmen meine Tante Julia und mein Onkel Mark mich mit zu einer Party mit lauter Verwandten, die ich nicht kenne. Es ist Herbst 1978 . Immer wieder höre ich Leute sagen, ich sei die Tochter meines Vaters. Es ist seltsam und tröstlich, so identifiziert zu werden, ein Mädchen, das jemandem zugehört. Ich gehe zwischen ihnen herum, als wären sie Schatten in farbigen Gewändern. Ich komme mir wie ein Faksimile vor, ein Glas in der Hand. »Hallo«, sage ich zu Fremden, mit denen ich irgendwie verwandt bin und die in meinem Gesicht meinen Vater zu sehen meinen. Ich wohne mit anderen zusammen in einem Zimmer auf einem Hügel. Das Bridgewater College wurde 1840 gegründet, in einem Kellerraum des Rathauses, und dort werden Lehrer ausgebildet. Meine Zimmergenossin, die aus Salem stammt, missbilligt meine Art, mich zu kleiden. Ihre Blusen sind langärmelig und hochgeschlossen; selbst in ihren dicken Pullovern sieht man runde Schweißflecken durchscheinen. Sie wirft die Arme hoch und verschränkt sie hinter dem Kopf. Sie hat Heimweh nach Salem und bleibt nur ein Semester. Ich stelle mir ihre Stadt vor, voller Hexen mit dunklem Haar.
    Ich will nicht Lehrerin werden. Meine Mutter hat ihre Ausbildung an diesem College gemacht, meine Familie ist noch in Spanien, deshalb schien sich diese Möglichkeit anzubieten. Auf der Party spricht eine dünne, dunkelhaarige Frau mit mir. Ich muss zu ihr heruntersehen. Falls wir verwandt sind, weiß ich nicht, wie. Sie arbeitet beim Sozialdienst und erzählt mir, dass man sich für die Arbeit bei einer Selbstmord-Hotline ausbilden lassen kann. Der Kurs dauert acht Wochen und berechtigt Teilnehmer dazu, bei der Hotline der Stadt zu arbeiten. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, bei den Samaritern anzurufen, der Hotline in Boston. Aber ich könnte stattdessen den Kurs machen. Ich könnte sowohl von den Experten als auch von den Selbstmordgefährdeten lernen, wie ich es vermeide, mich umzubringen.
    Ein paar Tage darauf betrete ich das Gebäude, wo das Büro der Hotline ist, und will mich zu dem Kurs anmelden. Drinnen ist es wie in einer Scheune, mit einer hohen Decke und viel offenem Raum. Es gibt einen Schreibtisch, einen Tisch, aber sonst kaum Möbel. Ein seltsamer Mann mit Wolfshaaren nimmt meine Anmeldung auf und will sich mit mir verabreden. Er bestellt Wein für mich, der zu süß ist, wie Limonade mit Alkohol. Eines Abends sind wir in einem Zimmer, es gibt ein Bett, eine gesteppte Decke. Er hat den Bauch eines Biertrinkers und Vielfraßes. Ein alter Mann. Aber er ist jung und überzeugt, dass ich ihn attraktiv finde, während ich gleichermaßen abgestoßen und angezogen bin, auf seltsame, schlafwandlerische Weise. Ich löse mich von dem magnetischen Zug der Abstoßung und Passivität – und höre ihn hinter mir, verwirrt, als ich über den Holzboden weggehe.
    Ich gehe zu der ersten Stunde des Kurses, die in einer Cafeteria stattfindet. Die Küche hat geschlossen. Wir gucken alle nach vorn und hören zu. Jede Woche machen wir Rollenspiele mit einem Partner. Ich drehe meinen Stuhl um und wende mich einem Sozialwissenschaftsstudenten zu. Die meisten anderen Studenten machen den Kurs im Rahmen ihres Studiums, sie sehen mich als Freiwillige, deren Anliegen es ist, anderen zu helfen. Am ersten Abend lerne ich Nicole kennen. Als ich ihr sage, dass ich siebzehn bin, sagt sie: »Wenn du jemanden brauchst, der dir was zu trinken kauft, frag mich.« Das ist eine gute

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