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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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ist und der Name des Friedhofs in weißen Steinen auf der Böschung geschrieben steht. Es ist das erste Mal, dass ich ihn allein zu finden versuche. Aber ich bin zu früh abgebogen, bei St. Patrick’s, wo nur zwei Männer langgehen, zwei Kinder. Der eine Mann sagt: »Seit fünfzig Jahren ist hier niemand beerdigt worden.« Ich habe das Gefühl, in der Zukunft aufgewacht zu sein. Wieder fahre ich die Centre Street entlang, habe mich verirrt, halte an einem rosa-braunen Dunkin’-Donuts-Laden, aber der Kassierer kennt die Cary Street nicht, er lebt nicht hier. Ich habe mich noch nie orientieren können. Auf dem Parkplatz trinke ich einen Kaffee, um mich herum ein Kreis aus Luft, keine anderen Autos. Es fühlt sich wie ein verlassenes Land an. Auf dem Gebäude rechts von mir ist ein blaues Kreuz, ein Krankenhaus, Brockton Hospital. Wo ich geboren bin. Das Erste, was ich von der Welt draußen sah, war dies hier: Centre Street.
    Ich finde das Grab, habe keine Blumen. Mein Kind in den Armen, dann die Arme leer. Ich sitze am Grab, seine Überreste unter dem Gras in meinen Händen. Ich spreche mit ihm wie damals, an dem Tag, als er geboren wurde. In dem Schaukelstuhl, bevor die Schwestern wussten, dass er adoptiert werden würde, nachdem sie den schönen Fehler gemacht und ihn mir zu halten gegeben hatten. Ich kann immer noch sein Gewicht spüren. Seine Ruhe in meinen Armen.
    Als er an Leukämie starb, musste ich ans Stillen denken. Dass er einen natürlichen Schutz gehabt hätte, wenn ich ihn hätte stillen können. Einen Schutz gegen die Stadt, in der er gestorben ist. Eine Stadt der Schuhe, zweihundert Jahre lang. Welche Auswirkung hat das auf die Qualität des Wassers gehabt?
    Ich weiß nicht, was im Wasser war, als mein Sohn geboren wurde, hier lebte und starb. Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung, ihn wegzugeben, sein Tod war. Vor seiner Geburt, das weiß ich noch, habe ich mich darauf gefreut, wieder schlank zu sein. Dann habe ich in der Dusche des Krankenhauses geblutet – nachts in der Dusche, die Krankenschwestern an ihren Stationen bei den kleinen gelben Lichtkreisen, meine Gebärmutter, die sich nicht schnell genug zusammenzog, obwohl ich sie mit meinen Fingerknöcheln massierte. Ich konnte mich kaum aufrecht halten, nackt, überall Blut. So ist meine Urgroßmutter gestorben, bei der Geburt, in Rockland – noch eine Stadt in der Nähe von Brockton. Ihr Name meinem so ähnlich. Nelly. Nach ihrem Tod wurden ihre Kinder verteilt. Nana Smith wurde eine Art Sklavin, für immer verloren und im Kindsein verhaftet, sie gab ihre Kinder fort, wie ich meins fortgab. Als ich meinen Sohn übergab, hat er auf dem ganzen Weg nach draußen geweint. Ich habe ihn in der Garage gehört, einem Schuhkarton am Haus. Ich habe ihn im Auto gehört. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Arme sich an den Innenseiten, wo unsere Körper sich berührt hatten, anfühlen würden, als wäre die Haut abgezogen worden.
    Einmal lernte ich eine Frau aus einem anderen Land kennen, die nach Florida gekommen war: Ana. Jahre zuvor war ihr Bruder gestorben, war auf einem Kreuzfahrtschiff verschwunden. Sie fuhr mit dem Bus nach Miami und hatte eine Videokamera dabei. Als sie wieder in meine Stadt kam, zeigte sie Bilder von Schiffen im Hafen, einem Nachtclub mit Passanten davor. Sie suchte nach ihrem Bruder. Ana war gekommen, um sich zu verabschieden. Ich hatte ihren Bruder nicht gekannt, aber als ein Junge durch den Blick der Kamera geht, durch das rote Lichtviereck, sah ich die Abwesenheit des Bruders. Ich sah, was das Nichtzweifeln bedeutete. Die Dichte der Dinge, die Luft, wo er gegangen war.
    Ich muss alle Teile kennen, aus denen ein Schuh besteht, um zu wissen, wie er zusammengenäht wird. Das Grundmodell des Schuhs besteht aus drei Elementen: Schuhbett, Fersenleder, Oberleder. Schuhe lassen sich in sieben Kategorien unterteilen: Mokassins, Sandalen, fersenfreie Schuhe, Holzschuhe, Stiefel, Schuhe mit Absatz, Halbschuhe. Aber die Mode macht mir zu schaffen – der Damastschuh, der französische Pump. Was für Schuhe haben die Armen getragen? Die Arbeiter? Die Toten? Wurden sie in ihren Ausgehschuhen in den Sarg gelegt? Wer trägt Schuhe mit Rosettenmuster? Bestickte Schuhe für Männer? Ich muss Grundlegendes wissen. Was hat mein Sohn getragen? Habt ihr eine Haarlocke von ihm aufgehoben? Gibt es ein Babybuch mit den ersten Dingen? Ich kann meinen Verwandten diese Fragen nicht stellen. Ich mache drei Fotos von einer aufgelassenen Schuhfabrik in

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