Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
Vom Netzwerk:
fragt sich wahrscheinlich, warum ich gekommen bin. Warum ich zum ersten Mal bei ihr übernachte. Sie schreibt eine Warnung für mich auf gelbes, liniertes Papier: »Mach dir nichts draus, wie ich den Kaffee trinke. Manchmal platzt er heraus.« Ihre Serviette bekommt Flecken. Früher einmal hat sie in Arabien gelebt, sie zeigt mir die Anhänger an ihrem Armband: Schühchen, eine Moschee, eine Ruine im Libanon (»eine schöne Ruine«, schreibt sie), eine Pyramide, ein Wagen mit winzigen Rädern, die sich drehen, ein Ölförderturm – sie trägt die Orte, die sie besucht hat, an ihrem Handgelenk, in Gold. In Arabien, erzählt Anne, durfte sie nicht mit den Arabern sprechen, weder Männern noch Frauen. Ich frage: »Wie hast du eingekauft?« Und sie sagt: »Brad musste das machen.« Einmal versuchte sie, mit dem Gärtner zu sprechen, und er kam nie wieder.
    Anne fragt, ob ich zum Friedhof will, zu Tommys Grab, und ich sage Ja. Aber auf dem Weg verfährt sie sich. »Das macht nichts«, sage ich. »Ich muss nicht heute dahin.« Wir fahren an einer Frau vorbei, die im Rinnstein geht; sie trägt ein rosa Hemd, das ihr bis zu den Knien reicht. Dass Anne fährt, macht mich nervös, wegen der Lähmung, aber anscheinend fährt sie überall hin. Fährt mit ihrer Freundin ins Museum nach Boston. Annes Arzt befürchtet, dass sie ihre Nahrung bald über einen Tubus zu sich nehmen muss, der ihr unterhalb der Rippen in den Magen gelegt würde, dann würde sie nichts mehr essen und trinken. Ich habe Angst, dass auch alles andere an ihr erstarren wird, wie ihr Schlund, ihr Sabbern klar und unablässig, wie bei einem Baby. Was passiert, wenn ihre Lungen erstarren? Ihr Herz?
    Oben ist eine Bibliothek, und am Abend sitzen wir in großen Sesseln, um uns herum Bücher.
Erzähl mir von meinem Sohn,
möchte ich sagen. Wie ist Nana Smith mit meinem Sohn umgegangen, wenn sie ihn den ganzen Tag bei sich hatte, an den Arbeitstagen? Wenn sie ihn versorgte. Meine Großmutter, die die eigenen Kinder für eine Zeit weggegeben hatte, die selbst weggegeben worden war, von ihrem Vater. Anne sagte, meine Großmutter sei ihr Leben lang eine Unschuldige gewesen. Als sie mit meinem Dad schwanger war, hatte Nana Smith die Schwester von Ben Groom gefragt, wie das Baby rauskommen würde. Bens Schwester sagte: »So wie es reingekommen ist.«
    Anne hat das nicht alles erzählt. Zusätzlich zu dem gelben Block hat sie eine kleine Tastatur mit einem erleuchteten Bildschirm, für längere Gespräche. Sie tippt, was sie sagen möchte, und es erscheint in grünen Buchstaben auf einem doppelseitigen Bildschirm, sodass man ihr am Tisch gegenübersitzen und lesen kann, was sie denkt. Sie kann außerdem einen Audio-Knopf drücken, wenn sie alles geschrieben hat, und dann spricht eine elektronische Stimme, weiblich, für sie.
    Anne sagt, wie es war, als mein Sohn starb: »Ab da hat Gertrudes Gedächtnis nachgelassen.« Wie war es für Nana Smith, als sie weggegeben wurde, ihre Mutter tot, der Vater wieder verheiratet? Eine Zeit lang war Nana Smith wie eine Dienstbotin in dem Haushalt, abgelehnt von der neuen Frau. Ich weiß, dass Nana nicht zu ihrer Schulabschlussfeier gegangen ist, weil sie kein Kleid hatte. Ich weiß, dass sie gearbeitet und kleine Geschenke für Anne gekauft hat. Nana jetzt in einem Grab auf dem Holy-Family-Friedhof, an der Center Street in Rockland. Die Grube kürzlich ausgehoben, in der Form ihres Sarges. Es ist schwer, sich ihre Leiche in der Erde vorzustellen. Sie war so hübsch, ihr zartes Gesicht, die feine Nase, das Kinn vorgereckt, ihr Schlafzimmer ganz in Rosa. So schlecht verheiratet wie Königin Gertrude.
    Als meine Eltern mich bei Anne absetzten, war die Haustür offen, und wir gingen rein. Meine Mutter, mein Vater und ich saßen im abgedunkelten Zimmer auf Annes Sofa. Es war, als wären wir in ein Haus gegangen, in dem niemand wohnte. Als Anne leise die Treppe herunter- und ins Wohnzimmer kam, sagte meine Mutter: »Du sahst aus wie ein Geist.« Vielleicht lag es daran, dass es so still war, dass sie nicht sprechen konnte.
    An dem Abend in der Bibliothek gab sie mir ein Buch über einen Künstler, den ich besonders verehrte. Ich hatte es noch nicht gelesen, aber nachdem die Lähmung in Annes Körper weiter fortschritt und sie in ein Heim gebracht worden war, nachdem mein Vater angerufen und gesagt hatte, sie wöge noch siebzig Pfund und liege zusammengekrümmt im Bett wie ein gebrochener Finger und warte auf den Tod, nur ihre Augen seien

Weitere Kostenlose Bücher