Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Nachricht. Ich hasse es, im Dunkeln mit dem Geld in der Hand vor einer Spirituosenhandlung zu stehen und einen Fremden überreden zu müssen, dass er mir eine Flasche kauft. »Möchtest du dich betrinken?«, fragt Nicole. Natürlich, natürlich möchte ich das. Sie lebt im Wood Dorm, einem Studentenwohnheim, zusammen mit einem Mädchen, das in wenigen Tagen aus dem College verwiesen werden wird. Eine vielversprechende Gruppe. Der Raum ist voller Rauch. Alles ist locker. Drei Mädchen teilen sich dieses kleine Zimmer. Holly, das dritte Mädchen, lerne ich erst beim nächsten Mal kennen. Sie ist schön, hat schläfrige, freundliche Augen. Holly sucht freundliche Zimmergenossen für mich, mit denen ich in ihrem Studentenwohnheim wohnen kann, sie leiht mir Sachen zum Anziehen, bringt mich mit dem besten Freund ihres Freundes zusammen. Sie kennt keine Engherzigkeit.
In dem Zimmer stehen ein Doppelstockbett, ein Einzelbett. Nicoles Haar ist rot, wirr. Sie hat ein bisschen Übergewicht und kräftigere Knochen als ich. Bei den Mahlzeiten senkt sie den Kopf so tief über den Teller, als könnte sie sonst ihr Essen nicht sehen. Ihre Brillengläser sind so dick, dass ihre Augen dahinter verschwimmen, weit weg. Sie ist einundzwanzig. Manchmal rastet sie aus und schmeißt alles im Zimmer herum. Alle ihre Sachen, alle Sachen ihrer Mitbewohnerinnen. Alles, was im Zimmer liegt, fliegt irgendwo anders hin. Holly ist langmütig. Nur wenn sie nach einem von Nicoles Anfällen ins Zimmer kommt, hebt sie die Stimme. Ich finde, die Zimmer sind zu klein, man sitzt da und starrt sich gegenseitig an, wie Tiere im Zoo.
Als ich am ersten Abend von Nicoles Zimmer weggehe, schneit es. Schnee landet auf meinem Haar. Ich bin froh, dass ich eine Freundin habe, eine Möglichkeit, an Alkohol zu kommen, einen Ort, wo ich willkommen bin und mich betrinken kann. Ich bin allein auf der langen Straße durch den Campus, den langen Hügel hinauf zu meinem Wohnheim. Der Polizeiwagen hinter mir drängt in meine Umnebelung. Ich achte nicht drauf, gehe weiter. »Hallo«, sagt der Polizist und schließt zu mir auf. »Kann ich Sie nach Hause bringen?«
»Nein«, sage ich. Ich weiß, dass ich nach Haschisch rieche, dass ich von dem Geruch umhüllt bin, dass mein Haar voller Rauchmoleküle ist. Der Polizist besteht darauf. Es ist spät, ein kalter Abend. Ich sitze auf der Rückbank wie ein harmloser Verbrecher, aber der Polizist könnte ein freundlicher Taxifahrer sein. Die Wärme im Auto ist wie eine warme Decke, und ich vergesse meine Nervosität. Ich weiß nicht, wie die Dinge hier sind. Was wirklich als Verbrechen zählt. Der Bridgewater Correctional Complex, ein staatliches Gefängnis, ist ganz in der Nähe. Gefangene und Studenten gleichermaßen in mehrstöckigen Gebäuden untergebracht. Wenn ich abends laufen gehe, den langen, geschwungenen Hügel hinunter, der in die Stadt führt, und auf der anderen Seite zurück und nach oben blicke, stelle ich mir die Gefangenen vor. Ich stelle mir vor, einer ist im Dunkeln bei mir. Wir beide versuchen wegzulaufen.
Außer dem Gefängnis und dem College gibt es in der Stadt ein Friendly’s Restaurant, ein Dunkin’ Donuts, einen Schallplattenladen, in dem es lila riecht, eine Spirituosenhandlung, einen Supermarkt und ein Bekleidungsgeschäft. Alle Menschen scheinen sich gleich anzuziehen: gedämpfte Farben, ordentlich, in gerade geschnittenen Hosen und Hemden. Nach acht Wochen habe ich den Kurs für die Nothilfe für Selbstmordgefährdete beendet. Zwar habe ich ein oder zwei Sitzungen versäumt, aber der Lehrer gibt mir ein gedrucktes Zertifikat. Ich könnte es rahmen lassen. Ich weiß nicht viel über die Verhinderung von Selbstmord. Nicole wird sich für die Arbeit bei der Hotline melden. Es ist nicht nur die Stelle für Selbstmordgefährdete – es gibt einen ganzen Katalog von Problemen und Adressen dafür, zum Beispiel Schwangerschaftsverhütung, Schwangerschaft. Aber Selbstmordgefahr wird an Ort und Stelle behandelt. Man muss die Hotline zu zweit besetzen. Nicole fragt mich, ob ich mit ihr zusammen Dienst machen will.
An unserem Hotline-Abend halten wir bei der Spirituosenhandlung. Nicole kauft eine Flasche Kahlúa. Im Supermarkt kauft sie Milch. Nicole hat den Schlüssel zum Hotline-Gebäude. Wir sind allein in dem scheunenartigen Gebäude. Wir gehen nach oben. Mixen unsere Drinks. »Hol uns im Supermarkt ein Sub-Sandwich«, sagt Nicole. Das mache ich. Ich habe noch nie ein Sub-Sandwich gekauft.
Der Mann
Weitere Kostenlose Bücher