Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
presst. »Oder bedeutet Migration«, fragt er, »wenn sie wegziehen? Sollte ich sie beim Kommen oder beim Gehen fotografieren?«
Er war es, der die Mutter mit dem Neugeborenen zuerst sah. Der Rücken der Lama-Mutter hellrot von dem Blut der Geburt, die wir um Sekunden verpasst hatten. Aber sie nimmt es lässig, im Stehen. Das Junge hauptsächlich Knochen und loses Fleisch, wie ein Vogel, als es sich auf die Vorderbeine stützt und umfällt. Sich mit den Hinterbeinen aufrichten will und umfällt. Fleisch wie Flügel auf dem Boden ausgebreitet. Ein leises Greinen von dem Jungen ist das einzige Geräusch. Ein-, zweimal dreht sich die Mutter nach ihrem Jungen um. Dann setzt sie sich daneben und lässt es mit seinen Bemühungen fortfahren. Wir müssen weiter, und ich bedaure, dass ich nicht sehen werde, wie das Kleine auf die Füße kommt. Wie das Bemühen ein Ende hat. Aber die Frau in dem Wagen vor uns hat auch angehalten. Sie beugt sich aus dem Fenster wie aus einem Haus. Ihr Hemd ist rosa. Sie ist fasziniert von den Bemühungen des Lama-Jungen, und als wir an ihr vorbeifahren, treffen sich unsere Blicke. Sie lächelt mir zu wie eine Mutter, als würde sie mich erkennen.
Auf dem Friedhof in Rockland komme ich an anderen Steinen vorbei, die andere Tode markieren, und dann bin ich da. »Hier bin ich«, sage ich. Ich lege eine Chrysantheme auf den Grabstein und rosa Blumen in einem Gittermuster auf ihr Grasgrab und sage: »Ich bin dir nicht böse.« Ich sage, sie war die Beste, was nicht stimmt. Ich meine damit, es tut mir leid, dass ich sie bestraft habe, weil sie mir ähnlich war. Dass ich befürchtete, das Muster ihres hilflosen Lebens sei in meine Gene übergegangen. Ihre Kindlichkeit und Passivität. Beide schwanger als unverheiratete Teenager. Anscheinend hat Nana dem Vater meines Dad nicht gesagt, dass sie schwanger war. Und hat stattdessen einen anderen Mann geheiratet. Ihre Heimlichtuerei. Ihr Egoismus, als sie ihre Kinder in einem Waisenhaus und bei Verwandten abgab. Wenn sie egoistisch ist, bin ich es dann auch? Ich habe nie gefragt, warum sie ihre Kinder weggegeben hat. Es schien, als könnte sie nicht erwachsen werden. Als wäre sie als Kind so sehr verletzt worden – die Mutter tot, der Vater ablehnend –, dass sie ein Kind blieb und jemanden suchte, der sich ihrer annahm. Früher bin ich abends um den See gegangen, habe die Lichter in den Häusern gesehen und mir gewünscht, jemand würde mich zu sich nehmen. Das erinnert mich an Nana, die meinem Dad, als er siebzehn war, sagte, er müsse jetzt für sie und den Rest der Familie sorgen. Ich wünschte, sie wäre erwachsen geworden. Ich hätte gern gewusst, wer sie unter all der Angst war. Sie ist jetzt seit einem Jahr tot, Nana. Das Gras ist drübergewachsen, aber ihr Name ist nicht in den Stein gemeißelt. Man kann nur wissen, dass sie hier ist, wenn man sich an sie erinnert.
Wie ein Schuh gemacht wird
Der Schuh ist eine Art Körper. Er hat eine Anatomie. Hals, Zunge. Oberleder, Schaft, Hacke, Gelenkfeder, Falz. Der Falz hat eine Fleischseite, auf der die Naht genäht wird. Die Leiste ist das Modell, das für jeden einzelnen Schuh hergestellt wird, für jede Größe, wie ein hölzerner Fuß. Ein Puppenfuß. Abends ging ich am Rand der Stadt der Schuhe, in der ich geboren wurde, zum Laufen. Ich trug meine ersten Laufschuhe, gekauft von meiner Großmutter. Davor hatte ich oft eine Knochenhautentzündung, ein Brennen, das erst aufhörte, wenn ich wieder lief, in Tennisschuhen, die so dünn waren, dass ich die Gehwegplatten unter meinen Sohlen spüren konnte, die kleinen Steinchen. In der Schule humpelte ich von Raum zu Raum.
Aber als ich in meinem ersten Collegejahr war, rannte ich in meinen Laufschuhen, bis ich außer Atem war. Jahre zuvor, im Brockton der Fünfzigerjahre, war Rocky Marciano, der unbesiegte Boxweltmeister, nur ein paar Meilen entfernt in schwarzen Stiefeln gelaufen. In schwarzen Ledersportschuhen, auf einer Muson-Military-Leiste hergestellt. Sie sehen wie Soldatenstiefel aus. Größe 10 , 5 . Schwere doppelte Ledersohlen. In diesen Schuhen ist er siebenhundertfünfzig Meilen gelaufen. In Blücher-Stiefeln mit zwanzig Zentimeter hohem Schaft, einer Schnürung über der Zunge und gerader Kappe. Nach dem Modell des Blücher-Halbschuhs. Der Stiefel bis zum Schienbein. Offener Hals. Rocky aus Brockton.
Ich ging um Mitternacht zum Laufen raus, ein Mädchen aus meinem Schlaftrakt mahnte mich zur Vorsicht. Als ein anderes Mädchen sie damit
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