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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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hinter der Theke fragt: »Was möchten Sie drauf?« Ich weiß es nicht.
    Ich sage: »Nichts.« Nicole packt ihr Sub-Sandwich aus und ist empört.
    »Was? Nichts? Hast du noch nie ein Sub-Sandwich gekauft?« Sie isst ihr Sandwich mit Käse und Fleisch, aber ohne Soße. In Spanien gab es einen Imbiss auf dem Stützpunkt, wo man Hoagies kaufen konnte. Jetzt verstehe ich, dass ein Hoagie dasselbe ist wie ein Sub. Amerika hat etwas Verwirrendes. Nach Spanien fühlt es sich schneller an, die Gebäude höher. Eines Abends sind Nicole und ich im Büro, es ist noch früh, als das Telefon klingelt. Ich merke, dass ich langsam betrunken werde. Wir wechseln uns am Telefon ab. Ich bin dran, und Nicole nickt mir zu. Bisher habe ich nur in dem Verzeichnis nachgesehen und in einem hilfsbereiten Ton Nummern ausgegeben. Am Telefon sagt ein Mann: »Wer sind Sie?« Er sagt, er würde sich umbringen, wenn er nicht zu dem Hotline-Büro kommen und mit mir sprechen könne. Ein bisschen klingt es, als würde er flirten. Als wollte er sich mit mir verabreden. Eine Verabredung zu einer Selbstmordbesprechung.
    Ich werfe Nicole den Hörer zu, sie ist Profi, die Sozialarbeiterin mit fast fertiger Ausbildung. Sie lächelt ironisch. Sie weiß, ich komme mit den geistig Gestörten nicht zurecht. Später lacht sie, dass ich eingeknickt bin, der schwarze Hörer, in Panik geworfen, in der Luft zwischen uns. Aber sie fängt ihn auf, und ihre Stimme ist kühl und sachlich. Sie klingt wie eine Krankenschwester. Nicole weiß, wie man Leben rettet. Ich esse mein Sandwich. Trinke meinen Black Russian. Ich kann das, was wir in dem Kurs gelernt haben, nicht im Kopf behalten. Ich brauche eine Liste mit Stichpunkten, konkrete Anweisungen. Vielleicht hätte ich die Hand heben sollen. Eine Frage stellen sollen. Ich war so besorgt, dass mein eigentlicher Grund, warum ich den Kurs gemacht habe, entdeckt werden könnte, und habe deshalb so gut wie nichts gesagt. Mit einem Fremden zu sprechen, ob persönlich oder am Telefon, stürzt mich in solche Ängste, dass ich mich zusammenreißen muss, ihn anzusehen oder anzuhören.
    Einmal nachts streiten Nicole und ich uns. Es ist drei Uhr morgens, sie sitzt in dem beengten Zimmer im Wohnheim auf einem Stuhl, betrunken und kampfeslustig. Meine beste Freundin am College ist böse auf mich, ich springe auf. Will zur Tür. Nicole erkennt sofort die Veränderung und sagt: »Lasst Kelle nicht gehen.« Nicole wirft sich, als wäre sie ein landwirtschaftliches Projekt, vor die Tür – ihr rotes Heuhaar, ihre milchweichen Glieder, ihre euterhaften Brüste. Sie ist zwar dick, aber weich wie Federdecken, unsportlich. Es ist nicht schwer, sie aus dem Weg zu schieben. Ich habe den Wunsch, mich vor ein Auto zu werfen. Kein Gedanke an den Fahrer, der ein betrunkenes Mädchen vom College verletzen oder töten wird. Als ich draußen bin, der Schnee auf mir, beruhige ich mich. Das herannahende Auto ist sehr langsam. Alles wird langsamer. Nicole schickt meinen Freund nach mir aus. Burgess. Er und ich haben so wenig Gesprächsstoff, so wenig Gemeinsamkeiten. Unsere Kommunikation ist rein physischer Art. Aber er hat glänzendes Haar, er kommt hinter mir her. Ein Junge aus der Stadt, der seine Arme um mich legt, wie Schnee im Schnee.

Arabien
    1 .
     
    Im Sommer 2006 besuchen meine Eltern und ich Anne, die Halbschwester meiner Großmutter, in Brockton. Anne kann nicht sprechen. Das ist mir am Telefon aufgefallen, schon 2003 , als ich sie anrief und fragte, ob ich Nana Smith besuchen könne – die langen Pausen zwischen den Wörtern, als wäre es ein Transatlantikgespräch.
    Jetzt kann sie auch nicht mehr gut schlucken. Eine geheimnisvolle Lähmung der Muskeln in ihrem Schlund. Ich verbringe die Nacht allein bei ihr. Sie war mir immer wie die standfestere der beiden Schwestern vorgekommen, die, bei der ich mich darauf verlassen konnte, dass sie mir von Brockton, Nana Smith und Tommy erzählen würde. Aber ich habe es zu lange aufgeschoben, und jetzt kann sie nicht sprechen. Es ist wie in einer der Detektivgeschichten in »Ripleys unglaubliche Welt«. Die erstarrte Frau. Als sie mit zitternden Händen Wasser in die Kaffeemaschine füllt, fange ich an zu weinen. Aber Anne ist erstaunlich selbstgenügsam. Sie klagt nicht und will keine Tränen. Sie lebt allein mit ihrer Katze, kocht, fährt Auto. Man könnte denken, ihre Beschwerden seien geringfügig. »Kann ich helfen?«, frage ich. Sie zeigt auf den Küchenschrank, Tassen und Untertassen.
    Anne

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