Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
aufzog, dass sie die Elternrolle übernahm, sagte sie: »Jemand muss die Mutter sein.« Ich wollte Stille, Dunkelheit. Ich lief an der Fabrik vorbei und sah zu den dunklen Fenstern hinauf, spürte die Energie eines Menschen, der rausguckte oder, über einen Tisch gebeugt, bei einer Arbeit war und der jetzt nicht mehr da war. Der Staub seiner Anwesenheit. Wie wenn man zu graben anfängt und eine Stadt unter der anderen findet, Schicht auf Schicht. Die Zeit unmittelbar vor mir, in den Backsteinen und der Luft, der Welten Seele.
Der Tag, an dem mein Sohn geboren wurde, war derselbe Tag, an dem Rocky seine Karriere als professioneller Boxer begann. Vierunddreißig Jahre später. Ich will damit nicht sagen, dass mein Leben an seins gebunden ist, auch nicht das meines Sohnes. Aber wir sind miteinander verknüpft, wie ein Körper, wie etwas Zusammengenähtes. Einmal wäre Rocky meinem Vater beinahe über den Fuß gefahren, als er vor dem Drugstore in Brockton hielt. Mein Vater, damals ein Kind, machte einen Satz zurück. Rocky sagte etwas. »He, Junge.« Rocky ist bei einem Flugzeugabsturz in Iowa ums Leben gekommen. Er war aus dem aktiven Boxsport ausgeschieden und moderierte einmal in der Woche eine Boxershow. Er war auf dem Weg zu seiner Frau, um mit ihr seinen sechsundvierzigsten Geburtstag zu feiern. Aber beerdigt ist er bei mir in der Nähe – auf dem Forest Lawn Memorial Cemetery in Fort Lauderdale, Florida –, ein bisschen weiter südlich auf der Landkarte.
Ein Schuh wird vermessen. Der Hohlraum zwischen Brandsohle und Zwischensohle ist mit granuliertem Kork gefüllt, der Korkausballung. Ein Falz ist ein schmaler Lederstreifen, der an den Rahmen genäht wird. Eine Sandale hat Riemen. Die Sohle (Leder, Gummi, Harz oder Plastik) und der Absatz (genagelt oder geklebt, Cuban-Absatz, Louis- XV .-Absatz, Keilabsatz), Absatzkeder, Laufabsatz (der Teil des Absatzes, der mit dem Boden in Berührung kommt), die Vorderkappe: Sie verleiht der Schuhspitze Form und gewährt Schutz. Hinterriemen, Gelenkstück (aus Metall oder Holz, zur Stabilisierung der Brandsohle), Futterleder (das in den fertigen Schuh eingesetzt wird und mit dem Herstellernamen versehen ist) und Ösen. Bei genagelten Schuhen werden kurze Nägel in die Sohle getrieben, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Früher wurde manchmal mit den Nägeln ein Muster gemacht, manchmal schrieb man damit einen Namen, der sich beim Gehen auf dem Boden abdrückte. Eine Mitteilung, die man zurücklässt.
Ich war siebzehn, als ich am Bridgewater State College in Massachusetts anfing zu studieren, nachdem ich bis dahin fast immer an anderen Küsten gelebt hatte. Aber in meinem ersten Lebensjahr hatte ich in der Stadt nebenan gewohnt, in Whitman. Nach meiner Geburt wurde ich in eine Wohnung im ersten Stock gebracht, steil, grau. Ein Vertreter hatte meiner Mutter an der Haustür einen Kinderwagen verkauft, der sich in einen Hochstuhl, einen Stubenwagen und einen Kinderstuhl mit Tischchen aus Resopal und Chrom verwandeln ließ. Alles in einem. Sie sagte, wenn ich darin ausgefahren wurde, war ich die Königin der Nachbarschaft. In der Wohnung gab es ein winziges Badezimmer ohne Badewanne. Eine verzinkte Wanne stand im Schlafzimmer. Auf der Landkarte sind Bridgewater und Whitman an einem Saum entlang mit Brockton, der Stadt nebenan, verbunden. Ich bin in Brockton geboren, mein Sohn ist dort begraben. Zusammengenäht.
Im Jahr 1900 gab es in Brockton einhundert Schuhfabriken. Die Charles A. Eaton Company war damals eine Schuhfabrik auf der Centre Street. Sie ist kürzlich in Lofts umgewandelt worden. Die möchte ich besichtigen. Aber es gibt keine Parkmöglichkeit, das Gebäude grenzt unmittelbar an die Straße. Als ich das Verkaufsbüro anrufe, meldet sich der Anrufbeantworter. Ich würde einen Spaziergang durch die Stadt machen, aber es ist kein Ort, wo man spazieren geht, man sieht nur wenige Fußgänger. Keine Geschäfte.
The Boston Phoenix
nannte meine Geburtsstadt »ein Loch, gewalttätig, runtergekommen«
.
Ich fahre über einen öffentlichen Platz, eine weiße Plaza. Solche Plätze erinnern mich an die Frauen in Argentinien, an ihre Plakate mit Fotos ihrer Kinder, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 entführt wurden oder verschwunden sind. Die Mütter der Plaza de Mayo. Jetzt ist auf dem Platz in Buenos Aires ein weißer Schal auf den Boden gemalt.
Von der Centre Street komme ich zur Cary Street und hoffe, den Weg nach Calvary zu finden, wo mein Sohn begraben
Weitere Kostenlose Bücher