Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
habe ich Mühe, mich zu konzentrieren, und die Mitarbeiter des Künstlerhauses haben Verständnis, sie wissen, dass ich zum Schreiben Ruhe brauche. Sie haben mir für einen Monat einen der Künstlerbungalows gegeben, und ich habe meine Ferien mit der Winterpause des Zentrums zusammengelegt. Das Häuschen steht mitten im tropischen Dschungel. Völlig abgeschieden. Die einzige Verbindung zum Rest der Welt ist ein Plankenweg, der zu meiner Tür führt. Es gibt Schilder, die darauf hinweisen, dass dies Privatgelände ist, aber manchmal können die Menschen nicht umhin, Schilder zu missachten. Dann sehen sie das kleine Haus, die Fenster im Schatten der Sonne. Sie kommen bis an die Tür heran, an die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, legen die Hände zum Schutz gegen das Licht um die Augen und spähen ins Innere. Manchmal winke ich. Es gefällt mir, so sichtbar in dem alten Wald zu leben. In einem Schutzraum innerhalb eines zweihundert Hektar großen Schutzgebiets. Hier gibt es nichts zu verbergen.
Von meinem Schreibtisch im Haus, mit Blick durch die Glaswand in grüne Blätter, rufe ich im Rathaus von Brockton an und bitte um die Urkunde. Von der Commercial Street im Osten gesehen, erhebt sich das Rathaus aus den Bäumen wie eine mittelalterliche Festung, ein runder Turm, dahinter das Gebäude mit weiteren Türmchen, wie eine Kirche. Ich bin bereit, meinen Familienstatus anzugeben. Zu sagen: »Ich bin seine Mutter.« Und etwas in meiner Brust verschiebt sich, als wäre ich in Teile zersägt, eine Landkarte der Welt. Ein Kontinent, der nach rechts rückt, zur Mitte hin. Ich fühlte mich wie Rocky, wie ein Boxer, ich, die ich nie jemanden geschlagen habe, außer ein Mal, als ich sieben war, in Honolulu, mit der Goldschnalle an meiner rosa Handtasche. Und das Baby, das ich geschlagen habe, als ich elf war. Ich bin bereit zu sagen: »Ich bin seine Mutter«, bereit, die Glastüren aufzustoßen, die Aktenschränke zu durchwühlen. Das Dokument zu fordern.
Aber ich bin am Telefon. Eine Sachbearbeiterin antwortet. Mir wird bewusst, dass ich mich nicht wie eine Lügnerin fühlen muss, als würde ich meine Beziehung zu meinem Sohn erfinden. Mir wird bewusst, dass im Hinblick auf die Fakten der Satz »Ich bin seine Mutter« völlig richtig ist. Aber die Sachbearbeiterin fragt nicht, wer ich bin. Sie sagt: »Das kostet fünf Dollar. Schicken Sie kein Bargeld.« Ich überweise fünf Dollar elektronisch.
Ein paar Tage später drückt der Postbeamte in Brockton einen Stempel mit »Happy Holiday« auf den Umschlag, der an mich geht. Der Standesbeamte hat die Sterbeurkunde in den Umschlag gesteckt. Ein gelbes Papier. Name: Thomas Edward Smith. Sterbedatum: 27 . Mai 1982 . Alter am letzten Geburtstag: 1 Jahr.
Daneben ist ein Kästchen, wo steht: »Unter einem Jahr«, darunter ein Kästchen für die Monate, ein anderes für Tage. Daneben wieder ein Kästchen mit dem Text: »Unter einem Tag«, mit weiteren Kästchen für die Stunden, eins für die Minuten. Für Kinder, die nur Minuten gelebt haben.
In die Spalte: »Falls US -Kriegsveteran, bitte Krieg angeben«, hat jemand »Nein« geschrieben. Bei »Todesursache« gibt es zwei Teile, A und B. Bei B heißt es: »Akute Myelomonozytäre Leukämie«. »Zeitspanne zwischen Ausbruch und Tod: 5 ¾ Mon.« Unter A steht: »Atemstillstand«. »Zeit zwischen Beginn und Tod: 1 Min.« Todesstunde: 5 . 30 pm.
Beth Gleghorn, die Ärztin, hat die Urkunde am Tag seines Todes unterschrieben, ihre Handschrift kaum lesbar. Ich wüsste gern, ob es Traurigkeit in der Hand war oder ob sie immer so schrieb. Ich würde gern Beth Gleghorns Handschrift analysieren.
Sterbeort: Boston. Bezirk: Suffolk. Krankenhaus: Tufts N. E. Medical Center 2299 . Im devonischen Zeitalter haben sich hier Berge erhoben. Fische haben Kiefer entwickelt. Große Bäume entstanden. In einem Moment ist da nichts, dann, Millionen Jahre später, gibt es Haie und Insekten, und die Trilobiten sterben aus. Die ersten Vögel fliegen.
Als ich einkaufen gehe, in einem Supermarkt, stehen zwei Frauen vor dem Orangensaft; eine sagt: »Wenn ich den trinke, kann ich nicht betrunken werden.« Sie lachen. Die Sprecherin und ich sehen uns an. Sie sagt: »Ich trinke nie«, und klingt betrunken, beschwipst. Dann sagt ein Mann: »Das ist normaler Kaffee«, und ein Mann mit Pferdeschwanz sagt: »Ich bin ein normaler Mann.« Ein übergewichtiger Mann in Badehose sagt zu mir: »Sie sollten sich eine Taucherbrille kaufen.« Ich habe
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