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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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noch lebendig – gespenstisch, sagte er, sie starrten ihn an –, suchte ich das Buch heraus. Am 17 . Juli 2006 hatte sie eine Widmung hineingeschrieben: »Für Kelle, mit viel Liebe und größerem Verständnis. Anne.« Als ich darin blättere, fällt ein Foto heraus. Es ist von Nana Smith in einem schwarzen Mantel, der Kragen mit Leopardenmuster, sie steht neben Anne, die vielleicht dreißig ist, hübsch, im weißen Pullover.
     
    2 .
     
    Beim Lunch habe ich nicht genug Blickkontakt mit Anne. Sie fährt mich zu Mark und Julia. Wir treffen uns in einem Restaurant. Nach dem Lunch, auf der Veranda des neuen Hauses von meiner Tante und meinem Onkel, erfahre ich, dass Julia nicht nur als Sekretärin für die Knapp Shoe Factory gearbeitet hat, sondern auch für den Direktor des Schuhmuseums. Julia sagte: »Ach, er war der Chef der Manager, für die ich gearbeitet habe.« Sie geht mit mir zum Strand am Ende ihrer Straße.
    Ein breiter Strand, als öffnete sich das Meer hier. Blaue Metallkacheln unter meinen Füßen führen ins Wasser, über Steine zu der klaren Sandbank. Als wir durch die Dünen gehen, ist Julia vor mir. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, deshalb frage ich sie: »Können wir irgendwann über Tommy sprechen?« Es ist das erste Mal, dass wir unter uns seinen Namen erwähnen, seit Julia ihn in ihren Armen aus dem Haus in Orlando getragen hat, als er vier Tage alt war. Erst ist sie still. Dann sieht sie mich an und sagt, sie wüsste nicht, ob ich ihnen die Schuld gäbe. Sie sagt: »Ich hatte niemanden, mit dem ich über ihn sprechen konnte, als er starb. Mark konnte nicht darüber sprechen.« Sie sagt, an dem Tag, als sie meinen Sohn beerdigt haben, war es sehr bewölkt.
    »Düster.« Nachdem sie ihn ins Grab gesenkt hatten, sagt sie, sei die Sonne herausgekommen und habe den Himmel erleuchtet. Sie lächelt mich an.
    »Was mochte er?«, frage ich.
    »Er war zu klein, um Vorlieben zu haben. Er war noch ein Baby«, sagt sie.
    Was glaubt sie denn, was ich meine? Ich meine nicht, mochte er Baseball oder was hat er gern im Fernsehen gesehen. Mochte er Blau? Gab es ein Lied, das er mochte? Jemand hatte gesagt, daran erinnerte ich mich, dass er Cheerios mochte. Das war entweder Nana Smith oder Dad, als er Tommy zu Ostern, kurz bevor er starb, besuchte. Er mochte Cheerios und die Blütenblätter von rosa Nelken. Aber ich kann Julia nicht drängen. Sie hat ihn versorgt, hat ihn gefüttert, hat jeden Tag mit ihm gespielt, hat mit ansehen müssen, wie er starb. Sie hat ihn beerdigt. Musste ertragen, wie er mit Erde bedeckt wurde, musste weggehen. Nach Hause. Ich frage mich, was ein Mensch danach tun kann. Was kann je wieder von Bedeutung sein? Ich glaube, jeder Versuch, glücklich zu sein – einen Film sehen, zu einer Melodie im Radio singen, was immer –, ist tapfer. Sie geht neben mir, legt mir die Hand auf den Rücken. Ich mache das auch bei ihr. So etwas würde eine Mutter tun, denke ich. Es ist ein bisschen schwierig, so zu gehen – wir sind wacklig. »Er wäre jetzt …«, sagt sie und rechnet sein Alter nach. Als hätte sie ihn irgendwo aufbewahrt, die Erinnerung an ihn als Baby, und könnte ihn jetzt sehen, erwachsen, vor uns. Er muss ganz schön groß sein, so hoch, wie sie guckt.

In der Stunde des Todes
    Heute habe ich um die Sterbeurkunde meines Sohnes gebeten. Er ist vor fünfundzwanzig Jahren gestorben. Es ist 2007 , kurz vor Weihnachten. Ich lebe allein in einem Glasbau in New Smyrna Beach, Florida. Das Künstlerzentrum, bei dem ich arbeite, macht Winterpause. Es ist dasselbe Zentrum, wo ich 1993 zu einem drei Wochen langen Aufenthalt war. Ich war hier so glücklich. Deshalb habe ich mich 2005 bei der Direktorin gemeldet und gefragt, ob es eine Stelle für mich gebe. Sie hat eine für mich geschaffen, und im Januar 2006 bin ich an die Küste gezogen.
    Meine Wohnung liegt in einem Haus am Meer, und es ist laut. Die Nachbarn unter mir feiern fast jeden Abend. Ich war gewarnt worden, dass ich es schwer aushalten würde, aber ich konnte der Aussicht, unmittelbar am Strand zu leben, nicht widerstehen. Tag und Nacht konnte ich das Meer hören. Einmal schien der Mond übers Meer wie ein Pfad, der bis in meine Wohnung führte, bis zu mir, auf einem Futon im Wohnzimmer, wo ich schlief. Ich dachte:
Wer weckt mich da?
Es war der Mond. Ich war so hoch oben, dass ich den Strand nicht sehen konnte, wenn ich im Wohnzimmer saß. Nur das Meer, als wäre mein Haus ein Schiff und ich triebe auf dem Wasser.
    Aber oft

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