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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Berührung ist ein Licht. Hier, meine Knie sind wieder da, wo ein Kind sich daran festgehalten hat.

Australien
    Zunächst ist da das Kreischen, als ich meinen zu großen Koffer den schmalen Gang entlangziehe, an den gelangweilten Blicken der Passagiere, die schon sitzen, vorbei. Das Aufbegehren gegen das Anschnallen. Atmen rechts von mir, Sportschuhe neben meinen Füßen, ein Junge, der sich auf engem Raum nach links wendet und »Hi« sagt. Die ausgestreckte Hand. Sein Kehlkopf auf Höhe meiner Augen.
    Ich hatte schon eine unsichtbare Wand zwischen den Sitzen errichtet und ihm die Armlehne überlassen, um mögliche Berührungen und Gespräche während des Fluges zu vermeiden. Aber ich hebe den Blick. Ein offenes Lächeln. Klare Augen. Ein Junge Anfang zwanzig. Meine Hand fühlt sich unbeweglich an, aber ich hebe sie von der silbernen Schnalle. Mein Körper ist schon in den blauen Sitz gesunken, aber ich beuge mich vor, gebe ihm meine Hand. »Ich fliege nach Boston, ich besuche die Verwandten meines Vaters«, sagt der Junge. Er ist seit vielen Stunden unterwegs, er kommt aus Australien. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich acht war.«
    »Mochtest du sie?« Ich frage mich, ob es für ihn ist wie für mich, als ich meine Cousins früher einmal im Jahr sah, auf ihrem Rasen stand, an ihrem Tisch saß und sie über das Wasser hinweg bewunderte. Der Junge sagt, er kann sich kaum erinnern. Aber da ist etwas unterschwellig Glimmendes – Nervosität, vermute ich.
    Der Junge hat schwarzes Haar, obwohl er kein dunkler Typ ist. Die Stimme der Flugbegleiterin ist im Wesentlichen von der Farbe einer Röhre. Mittleres Cadmiumorange, Dauergrün. Aber ihre Sicherheitsdemonstration ist Säuregelb, und es fällt mir schwer, ihren Anweisungen zu folgen, in ihre hellen Augen zu sehen. Ich werde später prüfen, wo die Notausgänge sind.
    Ich vergesse die Armlehne zwischen uns und berühre den Arm des Jungen, die Hauptvene, die an der Innenseite verläuft. Eigentlich waren es unser beider Arme, die zufällige Berührung von Ellbogen und Unterarmen. Der Junge ist etwas jünger, als mein Sohn jetzt wäre. Ich stelle mir meinen Sohn so ähnlich vor, er würde Hallo sagen, der fremden, allein reisenden Frau die Hand geben. Die Berührung ist wie eine kleine Trance. »Ich arbeite in einer Bibliothek«, sagt er. Zeigt auf seinen Dad, der ein paar Reihen vor uns sitzt, am Gang. Das erklärt, warum er
The Wind-up Bird Chronicle
von Haruki Murakami in seiner Tasche hat, warum er Anne Michaels’
Fugitive Pieces
so mag, wie ich übrigens auch. Noch nie habe ich mit jemandem, der neben mir sitzt, darüber gesprochen. Das Gespräch über Bücher. Als würde ein Kamm gleichmäßig durch meine Haare gezogen.
    Es gibt Klangwelten, die wir nicht hören können, es sei denn, jemand öffnet sie für uns. Nachdem wir lange gesprochen haben, sagt der Junge: »Ich schlafe jetzt ein bisschen, aber dann bin ich wieder da.« Wie rücksichtsvoll – dass er mir sagt, er wird jetzt die Augen schließen, damit ich mich nicht ausgeschlossen fühle. Eine kleine Freundlichkeit. Er hört Musik – ich höre sie auch, ferne Stimmen. Als sein Bein sich im Schlaf an meins lehnt, schlafe ich auch. Wenn man mit einem Menschen zusammenlebt, oder mit vielen, dann wäre es vielleicht nichts, man würde es kaum bemerken. Als würde der Koffer an einem lehnen. Wenn ich das Gras auf dem Grab meines Sohnes berühre, bin ich ihm so nah, wie ich sein kann. Als ich aufwache, streicht das Bein, das an meinem lehnt, Jahre der Erde fort. Wie eine Verwünschung.
    Ich erinnere mich an das Kloster bei Dublin, wo die Mönche den ganzen Tag nicht sprechen durften, außer wenn sie auf einem kurzen Flur waren – sie mussten alles in diesen Momenten sagen. Und an das Schloss in Killarney, dessen reiche Eigentümer früher im Sitzen schliefen, damit bei einem Brand, so erklärte es der Führer, der Rauch höher steigen müsste, um sie umzubringen. Der Junge und ich schliefen so wie diese Menschen. Es war nur ein Flug, von einer Stadt in eine andere, aber ich weiß nicht, wie es geschieht, wie wir in den Himmel gehoben und woanders abgesetzt werden.
    Am Ende des Fluges stehe ich schnell auf und stelle mich in den Gang, während der Junge noch sitzt, ich reihe mich im Gang zwischen die anderen. Aber ich gebe ihm ein Buch mit Gedichten für meinen Sohn. Er zieht den Reißverschluss an seiner Tasche auf, steckt das Buch hinein, zieht den Reißverschluss wieder zu und sieht die ganze Zeit in

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