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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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mein Gesicht. Etwas ist verändert, und er ist überrascht. Er spricht, aber seine Stimme klingt wie unter Wasser. Bei der Gepäckrückgabe in Boston sehe ich den Jungen mit seinem Vater stehen, der Vater starrt mich an, als würde er gern sprechen. Sein Mund steht offen.
    Ich stelle mir vor, dass das Buch mit dem Jungen zurück nach Australien reist, meine Stimme am anderen Ende der Welt. Ich hatte eine Lehrerin, die sich in einen Dramatiker aus Australien verliebte. Der Dramatiker schrieb ein Stück mit dem Titel
I Walked Into My Mother.
Sie schickte mir eine Aufnahme. Kinder von Aborigines waren ihren Eltern weggenommen und weißen Menschen gegeben worden, die sie aufzogen. Die Kinder kannten ihre Eltern nicht. Eins der Kinder hat seine Mutter angerempelt, ohne sie zu kennen. Als wäre die Mutter eine Tür.
    Ich hatte dem Jungen noch etwas sagen wollen. Es hatte mit dem Alkohol-Therapiezentrum bei der Marine zu tun, in dem ich behandelt wurde, nachdem ich meinen Sohn weggegeben hatte. Die Seeleute mussten in der Cafeteria Psychodramen aufführen. Es gab eine kleine Bühne, wie ein erhöhter weißer Krake, aber so flach, dass man Stühle draufstellen konnte. »Du musst da nicht mitmachen«, sagte meine Therapeutin. Als wäre mein Trinken weniger ernst, da ich so jung war und keine Arbeit hatte, die ich verlieren konnte. Ich war erleichtert. Ich sah, wie ein Seemann auf dem Kraken stand und sich selbst darstellte, während ein anderer die Rolle des Vaters übernahm. Es war überraschend, wie schnell der Matrose in dem anderen seinen Vater sah. Seine Stimme wurde erregter. Wie er seinen Vater hörte, als der andere sprach. Es wurde gebrüllt – der Sohn hatte Fragen an seinen Vater. Ich fragte mich, wie der Seemann-Vater ihm antworten konnte, so nah, wie sie standen, ungeschützt. Der Sohn war immer noch verloren, aber als der andere Matrose zu ihm trat, konnte man sehen, dass der Vater es war, der den Sohn umarmte. Manchmal, wenn ich einen Jungen sehe, der so alt ist, wie mein Sohn sein würde, wenn er am Leben wäre, denke ich über Wiedergeburt nach. Ich denke dann, er könnte es sein. Aber mit dem Jungen aus Australien ist es noch etwas anderes. In dem Moment, als er mit mir sprach, sich so nah zu mir herüberbeugte, war ich noch verloren, aber ich konnte etwas von dem Menschen spüren, der mein Sohn hätte sein können. Freundlich, gelassen, ein Leser. Ich wusste nicht, als wir wieder auf dem Boden waren, wie ich mit dem Jungen sprechen sollte – ich eilte an ihm vorbei, als hätte ich einen Termin. Besorgt, ich könnte etwas falsch machen und der Junge oder der Vater würden denken, ich hätte einem Gespräch im Flugzeug zu viel Bedeutung beigemessen.

Auskunftgeber
    An dem Abend, als mein Sohn starb, muss jemand bei uns angerufen haben, um das zu sagen. Hatte ich das Telefon gehört? Es war der 27 . Mai 1982 . Wenige Tage zuvor war ich einundzwanzig geworden. Er war um 17 . 30  Uhr gestorben. Kann sein, dass ich unter der Dusche war und mir die Haare wusch. Dass ich mich fertig machte, um zu Sophie zu gehen. Ich nehme ein silberfarbenes Kleid aus meinem Schrank. Trage es ins Wohnzimmer. Klappe das Bügelbrett zwischen den Sesseln und dem Frühstückstisch auf. Mein Dad sitzt in einem der Sessel vor dem Fernseher. Als ich bügle, die Silberfäden in meinem Silberkleid, brüllt mich niemand an. Obwohl es offensichtlich ist, dass ich ausgehen will. Niemand droht mir, hält mir mein Ausgehverbot vor. Mein Dad hat ein weiches Gesicht, als er mir zusieht, wie ich die Falten glatt bügle und dabei rede. Er behält das, was ich noch nicht weiß, für sich, damit ich noch ein Weilchen in der Welt sein kann, unwissend. »Hoffentlich hast du einen schönen Abend«, sagt er. Normalerweise sagen das meine Eltern nicht mehr zu mir. Ich bin nervös, rede unentwegt, vom Strand, von meiner Freundin bei der Arbeit, von der Band ihres Freundes, die wir auf dem Pier hören werden. Ich habe Angst, dass jemand mich abhalten will, aber ich muss unbedingt ausgehen. Mein Dad spricht freundlich mit mir, als wäre ich eine andere Tochter, eine, der man trauen kann.
    Die Beisetzung meines Sohnes war am 2 . Juni. Niemand hat es mir gesagt. Es steht auf der Sterbeurkunde. Es gibt eine Spalte, über der steht: »Verfügung«. Darunter hat jemand in schwarzen Buchstaben geschrieben: » BEGRÄBNIS «. In der nächsten Spalte steht: »Datum der Verfügung«. Daneben das Datum. Es gibt noch eine Spalte, wo steht: »Auskunftgeber – Name,

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