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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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kommt. Auf meinem goldenen Teppich liegen dicke Stücke rosa Plastik, wie Finger oder Zehen. Meine Mom hatte mir robuste rosa Schuhständer gekauft, passend zu meinem rosa Himmelbett. An dem Abend, als mein Sohn starb und ich ausgegangen war, ist sie in mein Zimmer gekommen. Sie hat jeden einzelnen Schuhständer genommen und zerstört. Aber die Schuhständer waren unzerstörbar – man konnte sie selbst mit der Schere nicht zerschneiden. Vielleicht mit einem großen Messer, aber das wäre schwere Arbeit gewesen. Ich weiß nicht, wie sie es mit bloßen Händen geschafft hat. Ich weiß nicht, dass mein Sohn gestorben ist. Ich bin zutiefst erschrocken, dass sie so böse auf mich sein kann.
    Erst bin ich allein, dann sind meine Eltern da. Nicht böse. Ich kann es nicht begreifen – ich war tagelang weg, ich habe mich nicht gemeldet, die zerstörten Schuhständer. Mein Dad sagt: »Tommy ist gestorben. Freitagabend.« Ich kann mich nicht erinnern, dass ich geschrien habe. Wir stehen an der langen Theke in der Küche, beim Telefon. Mein Dad gibt mir das Telefonbuch. »Zerreiß es«, sagt er, weil er sieht, wie ich mit den Händen die Luft zerreiße. Er sagte: »Das hat deine Mutter mit den Schuhständern gemacht.«
    Mark und Julia kommen zu uns nach Orlando, nachdem mein Sohn gestorben ist. Sie haben ihre Stellen aufgegeben, sich ein Wohnmobil gekauft und fahren im Land umher. Eines Tages stehen sie bei uns vor der Tür. Bleiben über Nacht. Am Morgen brechen sie heimlich auf. Ich bin noch im Schlafanzug, aber ich höre sie. Bei der Seitentür zur Garage fange ich sie ab. So sind sie auch mit Tommy weggegangen. »Wolltet ihr mir nicht Auf Wiedersehen sagen?«, frage ich. Mark und Julia sagen Worte, an die ich mich nicht erinnere. Nichts über meinen Sohn. Mark beugt den Kopf etwas nach unten, als gäbe er irgendwie nach. Es muss schön sein, immer zu zweit zu sein, immer jemanden zu haben, der spricht, wenn man selbst es nicht kann. Die meiste Zeit sehen wir uns nur an. Niemand sagt etwas über Tommy zu mir. Kein Wort.
    Jahre später lerne ich in einem Schreibseminar eine Frau kennen, deren Adoptivbruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie schrieb, ihr Vater habe unentwegt an die leibliche Mutter gedacht. »Die ganze Zeit, Dad?«, fragte sie ihn. Und er sagte: »Ja.« Er stellte sich vor, dass die Mutter zu ihm nach Hause kommen und nach ihrem Sohn fragen würde. Er überlegte, was er zu ihr sagen würde. Unser Lehrer in dem Schreibseminar war um den Vater besorgt. Er sagte: »Die GANZE Zeit? Warum holt sie nicht jemanden, der ihm hilft?« Aber ich war hocherfreut. Die leibliche Mutter war nicht unsichtbar. Sie war nicht das Behältnis. Ich dachte, wenn diese Mutter von Bedeutung ist, vielleicht bin ich es auch. Vielleicht denken meine Tante und mein Onkel darüber nach, was sie sagen können, wenn ich bei ihnen vor der Tür stehe.

Guanyin
    1 .
     
    Bevor ich meine Tante und meinen Onkel besuche, fahre ich von der Küste nach Orlando. Ich nehme das Flugzeug nach Boston, ich sitze in einem Bus zum Cape. Um vier Uhr nachmittags ist es draußen dunkel. Eine Stunde später, und es könnte Mitternacht sein. Es ist Thanksgiving 2009 , ich fahre zum Haus meiner Tante und meines Onkels in Falmouth. Während der Busfahrt rast mein Herz so sehr, dass ich befürchte, ich könnte einen Herzinfarkt bekommen.
    Hellblauer Wasserturm – die Häuser von Brockton durch die Bäume hindurch. Das Fenster im Bus ist mit einem Silberstab zweigeteilt, und ich gucke mal oben, mal unten, versuche, durch die Bäume zu sehen –
du bist da drin, du bist da drin.
»Infant«, das englische Wort für Kleinkind, vom Lateinischen
infans,
nicht sprechend. Die Kälte, die durch das Fenster kommt, ist beruhigend. Eine nahezu ausgestorbene Sprache wurde hier gesprochen. Die Knochen in meinem Gesicht lehnen sich daran. Wir sind in Rockland, dann in Mansfield, über die Brücke – die Brücke! Die Lichterflecken auf den Wasserstreifen. Das Wasser kommt auf uns zu, und die Brücke trägt uns, hält uns aus. Ich habe eine Postkarte, auf der Abraham zu sehen ist, dem ein Sohn versprochen wird, und drei Engel – das Ganze umgeben von roten Glasscherben. Die Flügel der Engel federig wie die der Vögel. Alle scheinen über dem Boden zu schweben. Jenseits der Brücke kann ich leichter atmen – es ist näher an zu Hause, auch wenn es erst das Upper Cape ist, noch fremd. Die erste Stadt auf dieser Seite ist Bourne. Ein Mann im Bus sagt: »Vor zwanzig

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