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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Adresse«. Hier ist der Name meines Onkels eingetragen. In der Zeile für »Beziehung« steht: »Vater«.
    Mit einem Stück Kreide ziehe ich einen Kreis um dich. Wenn dir das Wasser genommen wird, trinke aus meinen hohlen Händen. Wenn meine Hände abgeschnitten werden, nimm Speise von meinem Mund. Denk dran, geh nur so weit, wie der Himmel blau ist.
    Der 27 . Mai war ein Freitag, und an dem Freitag fragte ein Mädchen, mit dem ich im Eisenbahnrestaurant arbeitete, ihren Freund Al, ob er mich und Sophie auf die Gästeliste für den Abend setzen könne. An einem Abend kurz zuvor, als das Mädchen und ich zusammen am Empfang des Restaurants arbeiteten, erzählte sie mir, dass sie, als sie jünger war, vergewaltigt worden sei. Es waren noch keine Gäste da. Im matten Licht von der Theke stand sie dicht an der Wand. Es war wie die Wand in ihrem Haus, mit einem Fenster, durch das der Mann hereingeklettert kam. Sie ist ein zierliches Mädchen, schwarzes Haar bis zur Taille, der Rücken gerade wie eine Stuhllehne. Sie sprach ohne Verlegenheit, ohne Scham. »Ich habe Anzeige erstattet«, sagte sie. »Er ist ins Gefängnis gekommen.« Wir waren im Partnerlook gekleidet – schwarze Leggings, Rock, Ballerinas. Als würden wir zum Tanzunterricht gehen. Es war mir unvorstellbar, wie sie das überlebt hatte, ich dachte, es würde einen Menschen einfach umbringen. Ich konnte ihr keine Fragen stellen. Hörte einfach nur zu, und es war seltsam, dann nicht mehr zuzuhören und die Gäste zu begrüßen. Zu fragen: »Für wie viele Personen?«
    Sophie und ich fahren nach Daytona, eine Stunde Fahrt. Auf dem Pier teilen sich zwei Bands eine winzige Garderobe. Als wir ankommen, ist sie leer, nur wir, das Mädchen und Al. Das Mädchen malt sich die Augenlider mit blauem Lidschatten an. Sie sagt: »Es tut mir leid, dass Dave dich angemacht hat. Ich bin richtig sauer, dass er es bei dir versucht hat, wo er doch weiß, dass du mit mir befreundet bist.« Sie sieht aus wie eine winzige Prinzessin mit ihrem Mantel aus dunklem Haar, den Fransen am Ende, kobaltblaues Glitzerzeug, königliche Haltung. Wir waren an den anderen in der Band vorbeigegangen, hinter die Bühne.
    »Ach, das hat mir nichts ausgemacht«, sage ich.
    »Er will sich verloben«, sagt das Mädchen.
    »Oh.« Es macht mich neidisch, dass das Mädchen in einer Welt lebt, wo die Menschen gutes Benehmen haben. Dass sie gewisse Verhaltensstandards hat und empört ist, wenn die nicht eingehalten werden.
    »Nein«, sagt Al. »Er und Sheila haben sich letzte Woche getrennt.« Die Tür geht auf, die Mitglieder der Band kommen herein. Dave zwängt sich auf dem Sofa zwischen mich und Sophie. Ich versuche meinen Arm aus seiner Umschlingung zu befreien.
    Er lächelt. »Was ist? Hast du etwa Angst vor mir?«
    Ich versuche, ein gelangweiltes Gesicht zu machen. »Nein.«
    »Gut. Da bin ich aber froh.« Er reicht mir eine Literflasche Jim Beam. »Hier.« Ich wünschte, er würde nicht so ironisch lächeln. Er zwirbelt eine Strähne von meinem Haar zwischen den Fingern. Um anzugeben, nehme ich mehrere Schlucke direkt aus der Flasche. Reiche die Flasche zurück. Er lacht. Der Club-Manager macht die Tür auf und blickt hinein. Er trägt Polyesterhosen mit Schlag und ein hellgrünes T-Shirt mit dem Logo der Band vorne drauf. Dichtes dunkles Haar reicht ihm in sorgfältig mit Haarspray besprühten Schichten zu den Schultern. »Achte auf ihn«, flüstert Dave. »Wenn er sich umdrehen will, bewegt er den ganzen Oberkörper. Er dreht nicht einfach den Kopf, aus Angst, seine Haare aus der Fasson zu bringen.«
    Am nächsten Morgen erlange ich das Bewusstsein neben Dave wieder, in einem stillen Haus, das aussieht, als wäre es auf dem Lande. Sein Haus vermutlich. Ich erinnere mich an einen weißen Wandschrank. Auf meinen Hüften sehe ich die kleinen weißen Schwäne, Schwangerschaftsstreifen von der Zeit, als ich mit Tommy schwanger war. Fenster und davor Felder, nichts als Felder. Es sieht nicht im Mindesten so aus wie Orlando oder Daytona. Als hätten wir die Staatsgrenze überquert oder wären in einem anderen Land. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein Haus mitten auf der Wiese, kein anderes weit und breit.
    Ich rufe nicht zu Hause an. Niemand weiß, wo ich bin. Nach zwei Tagen komme ich zurück. Wie, weiß ich nicht mehr. Bei meinen Eltern ist niemand zu Hause. Es ist so still. Das Summen der Klimaanlage. Ich gehe in mein Zimmer, ziehe mich um, packe ein paar Sachen zusammen, falls es zum Streit

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