Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Tür.
Tommy sitzt in einem Hochstuhl mit einem gelben Tablett, trinkt aus einer Flasche. Die Augen glücklich, sie lächeln. Jetzt reitet er auf einem Snoopy-Hund. Hält seine Schaffnermütze auf dem Kopf fest, die Füße auf dem Teppich. Seine Augen ganz dunkelblau, erregt. Hier sieht Tommy nur wie er selbst aus, so schön, dass ich aufhöre zu atmen. Er sieht verloren aus. Ich würde meinen Körper auf der Stelle für ihn entäußern. Meine Knochen herausnehmen, sie ihm überlassen. Es geht ihm nicht gut, eine Kuhle neben dem Auge, an der Schläfe. Es herrscht Verwirrung, Traurigkeit. Er ist gerade erst gekommen, und jetzt muss er schon wieder gehen.
Tommy hat nie sprechen gelernt – hat nie ein richtiges Wort gesagt. Julia sagte: »Als er hätte lernen und sich entwickeln sollen, da hat er um sein Leben gekämpft.« Es gibt ein Foto von seinem Geburtstag, ich erkenne ihn nicht, weil er so klein ist, dünn, das blonde Haar weg. Er sieht älter aus und zugleich kleiner, die Hand an die Brust gehoben, die Finger eingerollt, lächelt mit geschlossenem Mund, die andere Hand ausgestreckt. Julia hält ihn im Arm, großes Lächeln, eine Hand auf Marks Hand. Tommy hat eine blaue Decke auf den Knien. Meine Großmutter sitzt lächelnd neben ihnen. Er ist ein Jahr alt. Fast schon gegangen. Seine Augen sind sehr blau.
Über Marks Kopf ist ein gelber Ballon, auf dem steht: »Happy Birthday, Tom.« »Habt ihr ihn Tom genannt?«, frage ich.
»Ja«, sagt Julia. »Tom-Tom.« Es ist ein Schock für mich, dass ich nicht weiß, wie er genannt wurde.
Mark war mit den Armen voller Tüten zurückgekommen. »Ich habe nichts aufgemacht, hab einfach alles mitgenommen.« Er legte die Tüten auf den Esstisch. Ein Strafzettel für zu schnelles Fahren. Nur eine Verwarnung. Julia mit mir am Tisch. Mark hinter uns. Es gibt einen Clown bei der Party, Kuchen, spitze Hüte. Tommy sitzt auf Julias Schoß, lächelt. Ich sagte: »Er sieht so glücklich aus, obwohl er so krank ist.«
»So war er immer«, sagte Julia.
Als Julia das Babybuch aufschlägt, zieht sie die Luft ein. »Da ist vielleicht nicht viel drin«, sagt sie, und dann sehen wir, dass es fast voll ist. Sein erstes Lächeln mit zwei oder zweieinhalb Monaten. Sein erstes Lachen mit vier oder viereinhalb Monaten. Sein erster Schneidezahn. »Welches sind die Schneidezähne?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht«, sagt Julia und lacht beinahe. Weil es weit weg war, und jetzt ist es wieder da – er ist hier, er bekommt einen Zahn. Welches ist das Lieblingsessen? Eine der Antworten ist »Rindfleisch«.
Und ich sage: »Rindfleisch?!«
Und Mark oder Julia, einer von beiden, sagt: »Ja, du weißt schon, das in den kleinen Gläsern.« Das ist ein bisschen komisch, weil ich Vegetarierin bin, und sie reagieren etwas defensiv. Es gibt eine Seite für medizinische Eintragungen. Julia zeigt: » 9 . Dezember« (oder 19 .?), daneben in Handschrift »Ohrenschmerzen«. Sie sagt: »Da hat es angefangen.« Sie sagt, es war AML , Akute Myeloblastische Leukämie. Wie bei dem Typen in dem schrecklichen Film, den wir gesehen haben.
»Ist es in seine Wirbelsäule gewandert?«, frage ich. Julia sieht mich verwirrt an. »Und dann in sein Gehirn?« Sie weiß nicht, wovon ich rede. »Hatte er eine Schwellung an der Stirn? Einen Tumor?«
»Nein«, sagte sie. »Er hatte Leukämie. Er hatte nichts an der Stirn. Guck dir doch die Fotos an – da ist keine Schwellung.« Woher hatte ich diese Informationen? Warum habe ich das vierundzwanzig Jahre lang geglaubt? Kein Krebs in der Wirbelsäule, kein Hirntumor, kein Tumor auf der Stirn. Fast scheint sie beleidigt, dass er entstellt gewesen sein könnte, ihr Junge.
Nachdem ich die Fotos angesehen habe, sehe ich ihn deutlich, wenn ich in den Spiegel gucke, in meinem Gesicht. Ich sehe seine Mutter. Als wir die Fotos ansahen, habe ich gesagt: »Er sieht so schön aus.«
Julia sagte: »Er sieht aus wie du.« Darauf konnte ich nichts sagen.
Mark gibt mir fünf blaue Kassetten, jede so groß wie meine Handfläche. Weiß um das Loch in der Mitte. Auf diesen Kassetten ist Tommy. Er ist darauf lebendig. Ich weiß nicht, wie man sie abspielt. »Tommys erster Geburtstag 1 « und 2 , 3 und 4 . Dann »Plymouth Beach 5 Mon. und Tommy Smith& Mikie 8 Mon.«. Er ist da drin. Vielleicht sogar seine Stimme, sein Lachen.
Wir treffen uns mit der Schwester meiner Tante und deren Mann in einem irischen Pub. Julia und Mark gehen da gern hin und singen mit. Aber der Sänger verspätet
Weitere Kostenlose Bücher