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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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gewendet und gesagt: »Danke, dass ihr Tommys Eltern wart.« Das war alles, was ich tun konnte, bei Tageslicht, beim Abschied. Ich hatte es auch zu Julia gesagt – bei unserem ersten Gespräch am Samstagmorgen. Sie fragte, ob ich es bedaure, dass ich Tommy zu ihnen gegeben hatte. »Ich kann mir keine besseren Eltern für ihn vorstellen. Ihr wart genau richtig«, hatte ich gesagt. »Aber das mit dem Wasser macht mich nachdenklich.« Das Wasser in der Stadt, meinte ich.
     
    5 .
     
    Danach steige ich in den Bus nach Boston, fahre mit der Bahn zum Museum. Und da sehe ich sie – Guanyin. Die Bodhisattva des Mitgefühls. Seit 1912 ist sie hier in Boston, aus China gekommen. Ich sehe ihre freundlichen Augen, die drei kleinen Plättchen an den Fingerkuppen, wie Münzen aus Stein. Sie lächelt mir zu und hält die Augen dabei geschlossen und offen gleichzeitig. In meiner Handtasche habe ich einen Umschlag mit Fotos von meinem Sohn, die ich vorher nicht kannte – zwölf Bilder habe ich mitgenommen. Ich habe die Kassetten mit ihm am Strand, mit seinem ersten Geburtstag im Krankenhaus. »Sag, dass die Kassetten alt sind», hatte mein Onkel mir noch gesagt, als er sie mir gab. »Die Bänder sind vielleicht zu brüchig«, hatte er gesagt, und seine Stimme war ein Stakkato vom Weinen. Dann hatte er, glaube ich, eine der Kassetten aufgemacht, der Streifen die Farbe von Malzbier, durchsichtig. »Man kann sie auf DVD übertragen lassen. Wir wollten das machen, aber wir haben es nicht gekonnt.« Er hatte mich gebeten, ihnen eine Kopie zu machen. Er erwähnte noch einmal die Brüchigkeit des Films, sein Weinen wie ein Gewehr, das verstummt, wieder feuert. Zu unser aller Überraschung. Die Bilder und Kassetten, die siebenundzwanzig Jahre in einer geheimen Schublade gelegen haben, jetzt in einer Plastiktüte in meiner Handtasche.
    Ich wusste nicht, wer die Steinfrau war, ihre Hand seit 1429  Jahren erhoben, seit dem Jahr 580 unserer Zeitrechnung. Ich bin auf dem Weg zum Haus einer Fremden in einer Stadt in der Nähe, weil ich kein Geld fürs Hotel habe. Ich muss mit einer anderen Bahn fahren. Aber zuerst fahre ich ins Museum. Seit Jahren möchte ich den hell leuchtenden Heuhaufen wiedersehen, den ich von hier kenne.
    Damals war meine Familie auf dem Cape geblieben, und ich war mit dem Bus nach Boston und wieder zurückgefahren. Das war zehn oder fünfzehn Jahre her. Ich war zufällig in den Saal mit den Heuhaufen gekommen, auch die kühlen Versionen waren dort, die Kathedrale, der Fluss. Ich war so überrascht, dass ich stehen blieb. Das Licht verblüffend, als hätte der Maler mir die Hand über die Augen gelegt. Ich hatte geweint. Und nachdem ich die Bilder gesehen hatte, auf der Busfahrt zurück zum Cape, wollte ich bei Dunkelheit in Brockton aussteigen. Das Grab meines Sohnes suchen. Aber ich blieb sitzen, ließ mich über die Brücke fahren.
    Inzwischen sind so viele Jahre vergangen, seit ich die Bilder gesehen habe, dass ich sie nicht noch einmal zu sehen erwarte. Wahrscheinlich war es eine Sonderausstellung, denke ich. Bei diesem Besuch im Museum verirre ich mich gleich zu Anfang. In der Grabstätte aus Ägypten sind Hunderte von Booten mit winzigen Menschen an den Rudern, die den Toten helfen. Wer ihnen wohl jetzt hilft, da all ihre Boote hier sind und all die winzigen Menschen? Die Särge sind leer. Ich bin überzeugt, so hatten sich das die Ägypter nicht gedacht.
    Ich suche eilig nach den Dürer-Drucken, aber eigentlich ist es sein Gesicht, das ich zu sehen hoffe, das Bild mit dem langen Haar. Das Buch, das er in der Hand gehabt hat, liegt unter Glas. Ein Saal führt in den nächsten, und da sind die Heuhaufen vor mir. Diesmal fährt das Licht zwischen meinen Brüsten in meinen Körper hinein wie ein Strahl. Als ich auch diesmal in Tränen ausbreche, bin ich besorgt, dass ein Mann im dunklen Anzug, ein Museumswärter vielleicht, sich über mich lustig macht. Er sitzt vor dem Gemälde auf einer Bank. Ich bleibe hinter ihm, um das Bild in Ruhe betrachten zu können. Draußen regnet es, ich muss wieder zur South Station und die Bahn nach Newton, Boston College, finden. Ich muss mich dort mit Leuten treffen, die ich nicht kenne – Freunden des Verlegers meiner Gedichte –, mich mit ihnen unterhalten, in ihrem Haus schlafen. Als ich mich von dem Bild abwende, ist es, wie wenn ich mich vom Meer abwende.
    Ich eile also durch die Räume, doch dann sieht mich die Frau in der Statue. Die Bodhisattva ist aus grauem Kalkstein

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