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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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geschnitzt, mit Spuren von Vergoldung – vielleicht leuchtet sie deshalb so –, aus der nördlichen Zhou- oder der frühen Sui-Dynastie. Ihr Name steht für Hüterin der Klagen der Welt. Sie ist Mutter. Ich weiß das nicht, als ich sie in dem länglichen Raum sehe, nachdem ich durch eine Tür geeilt bin, um durch die nächste zu eilen, aber ihr Blick ist so liebevoll, dass ich zu ihren Füßen verharre. Unterhalb ihrer Taille ist noch ein Steinplättchen, noch eins in ihrem Kleid, unter dem Knie. Ich wundere mich, dass Stein voller Freundlichkeit sein kann, so voll von ihrem Wesen. Das Haus brennt, aber sie dient mir, dient allen. Sie geht erst, wenn niemand mehr leidet. Ich bleibe eine Weile stehen. Schleier fallen von den Ärmeln ihres Gewandes, wie stille Wasser. Ich berühre sie nicht.
     
    6 .
     
    In der Bahn nach Newton ist ein niedliches kleines Mädchen in einem lila Mantel. Sie spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe, die Augen der anderen sind abgewendet. Als ich erst ihr, dann ihrem Vater zulächle, flüstert sie ihm etwas zu, zeigt auf einen Platz, etwas entfernt von mir. »Nein, nein, wir sitzen hier gut«, sagt er auf Englisch zu ihr. Ich versuche niemanden anzusehen, nur auf den Stoff zu gucken, die Beschaffenheit des Mantels. Es ist schon dunkel, kurz vor fünf. Ich will nicht weinen, blinzle die Tränen weg. Newton ist hell, auch am Abend, Lebkuchenhäuser in der Altstadt. Ich finde das Haus, wo ich übernachten werde – ein zweigeschossiges Familienhaus. Gehe den Anweisungen gemäß um das Haus herum, öffne die unverschlossene Haustür, steige die schmale Holztreppe nach oben, ziehe den Koffer hinter mir her, der zu groß ist und an den Ecken hängen bleibt. Mit Mühe bekomme ich ihn die Treppe hoch, meine Handtasche am Handgelenk schlägt hin und her. Ich breche trotz der Kälte in Schweiß aus. Ich bleibe nur eine Nacht, morgen Abend fliege ich zurück. Ich klopfe an die Tür, wo die Menschen wohnen, die mich aufnehmen – ein Dozentenpaar, die Frau ist Dichterin. Sie wissen so gut wie nichts über mich. Rick, der Leiter des Verlags, in dem meine beiden letzten Gedichtbände veröffentlicht wurden, hat sie gebeten, sich meiner anzunehmen.
    Die Dichterin ist sehr groß, ihr Mann ist ruhig – beide freundlich. Sie laden mich ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, mit ihnen zu essen. Er sitzt an der Schmalseite, sie mir gegenüber. Sie fragen, ob sie meine Hände fassen, ein Gebet sprechen können. Als ich dem Mann die eine Hand, der Frau die andere gebe, halten sie mich fest, bilden einen Kreis. Der Mann fragt verunsichert seine Frau, ob ein bestimmtes Gebet gut sei, und es ist fast zu viel, ihre Liebenswürdigkeit. Aber mein Herz ist ruhiger geworden. Nach dem Essen kommen sie mit mir nach oben, in meine private Wohnung – Büro, Schlafzimmer, Badezimmer –, und bitten mich, ihnen vorzulesen, Gedichte. Und wir lesen uns gegenseitig vor – die Dichterin und ich, Gedicht um Gedicht. In einigen Gedichten schreibt sie von Maria Magdalena. Sie sitzen auf den anderen beiden Sofas, hören zu, bitten mich, mehr zu lesen. Mein Bett hat alle Abstufungen von Rosa und Rot, die Kissen, die Decken, wie kleine Blümchen auf dem Felde.
    Es gibt nicht viele Bücher über die Stadt Brockton. Aber ich fand einen Autor, der über alle Städte Amerikas geschrieben hat, die einen Niedergang erlebt haben. Er hat auch über Brockton geschrieben. Ich wollte ihm eine E-Mail schicken, ihn fragen, wie ich herausfinden könnte, ob die Stadt womöglich für den Tod meines Sohnes verantwortlich war. Aber ich wusste nicht, wie ich es formulieren sollte – Fragen über Krankheit und das Wasser, Fabriken und Schuhe. Ich wollte ihn nicht belästigen. Es stellte sich heraus, dass der Autor am selben College unterrichtet wie dieses Ehepaar. Die Dichterin kannte ihn. Nicht gut, aber er war in ihrer Fakultät. Sie sagte, er toleriere keine dummen Leute. Sie fragte, ob ich ihm schon geschrieben hätte. Als ich verneinte, sagte sie: »Ich schicke ihm einfach eine Mail, vielleicht kann er sich in seiner Bürozeit mit dir treffen.« Das tat sie, bevor wir schlafen gingen. Und bevor sie nach unten gehen, erzähle ich der Dichterin – warum, weiß ich nicht –, dass ich am Nachmittag Guanyin gesehen habe. Sie sagt: »Auch eine Mutter.«
    Am Morgen guckte der Mann nach seinen Mails. »Er hat geantwortet«, sagte er. Die Dichterin ging zum Computer und las die Mail vor. »Er sagt, über Brockton zu schreiben ist eine feine

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