Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Sache für eine Dichterin.« Das klang nett. »Er hat ein Sabbatsemester und ist nicht im College, aber er sagt, du sollst ihn anrufen«, sagte die Dichterin. Sie schrieb die Nummer auf. Ich brauchte den ganzen Tag, bis ich ihn anrief. Ich war zu Fuß zum College gegangen, ich hatte Massen von Toten in einer Ausstellung über den Bürgerkrieg gesehen. Die Bilder meines Sohnes in meiner Handtasche, die Kassetten, das Medaillon. Kurz bevor ich aus Newton wegfuhr, saß ich oben auf dem Sofa, mein Herz raste, und wählte die Nummer. Er nahm sofort ab. »Sie sind nicht die Einzige«, sagte er, »die danach fragt.«
Ich erzählte ihm meine Geschichte in aller Kürze, erklärte, warum ich mich für Gesundheitsfragen und eine mögliche Verbindung zwischen der Industriegeschichte und bestimmten Krankheiten, besonders Leukämie bei Kindern, in der Stadt interessierte. Als ich erwähnte, dass der ehemalige Verkaufsleiter von Knapp Shoes behauptet hätte, weder in Brockton noch in ganz Massachusetts habe es Gerbereien für Schuhleder gegeben, erinnerte er mich an einen der alten Männer von der Schuhfabrik, über die er in seinem Artikel über Brockton geschrieben hatte. Der Mann habe gesagt, er hätte die gelben Flecken von seinen Händen überhaupt nicht abbekommen. Ich fragte mich, ob dies der Ansatz zu der Entdeckung weiterer Flecken sein könnte. Aber er konnte mir nicht sagen, wo ich suchen sollte, außer in der Bibliothek, den Zeitungen, den Colleges der Stadt – was ich wissen will, liegt nicht in seinem Bereich. »Mit solchen Fragen kann man nicht zur Handelskammer gehen«, sagte er. Sein Ratschlag aber war, selbst durch die Stadt zu laufen, sich umzusehen. »Brockton«, sagte er, »enttäuscht nicht.«
7 .
Ich war froh, dass ich endlich meine Tante und meinen Onkel besucht hatte, dass ich den Namen meines Sohnes ausgesprochen hatte. Ein Durchbruch, wie meine Tante sagte. Aber dass ich meiner Familie nichts davon gesagt hatte, dass ich sie getäuscht und nicht gemäß ihren Wünschen gehandelt hatte – das nagte an mir. Über die Feiertage hatte jemand einen Link zu einer Gruppe für Selbstmordverhinderung geschickt – ich klickte ihn an und sah mir das Video an. Eine Frau, die einen Selbstmordversuch überlebt hatte, erklärte, im Leben eines Menschen, in seiner Vergangenheit, könne es etwas Ungelöstes geben, das unter der Oberfläche liegt, aber wenn etwas anderes passiert – eine Krise –, könne das Schlummernde mit an die Oberfläche kommen. Sie sagte, es sei wichtig zu bedenken, dass es andere Möglichkeiten gebe, den Schmerz zu lindern, nicht nur den Tod.
In den Wochen bevor ich zu meiner Tante und meinem Onkel geflogen war, hatte sich allmählich etwas Schlummerndes in mir geregt. Es fühlte sich zunehmend dunkler an. Ich merkte, wie ich dachte: Du hast kein Recht zu leben. Oder: Du hast dein Leben gehabt, es ist vorbei. Ich stellte mir den Tod als Schlafen vor, als einen schönen Schlaf. Es war nicht die Todessehnsucht von damals, als ich in meinen Zwanzigern war, das lange, langsame Abgleiten in eine dunkle Höhle. Die Gedanken waren schnell, knapp, als wären sie aus einer Quelle außerhalb meiner selbst hereingeschlüpft. Ich war beunruhigt. Ich wusste, es hatte mit Handeln zu tun, mit Angst. Es hatte damit zu tun, dass ich in der Welt Tommys Mutter war, obwohl ich immer noch das Gefühl hatte, es eigentlich nicht sein zu dürfen, es nicht laut sagen zu dürfen. Es hatte damit zu tun, dass ich zu seinen eigentlichen Eltern fahren und sie nach seinem Leben fragen wollte.
Ich beschloss deshalb, zu handeln, ungeachtet meiner Angst. Den Flug nach Boston hatte ich schon gebucht. Ich flog an Thanksgiving, weil das der billigste Flug war. Ich hatte ein billiges Hotel für fünf Nächte reserviert, aber als ich meine Finanzen überprüfte und feststellte, dass ich mir doch kein Hotel leisten konnte, bat ich um Hilfe. Um Hilfe zu bitten, Menschen um Unterkunft zu bitten, geht mir sehr gegen den Strich. Trotzdem schickte ich meinem Verleger eine Mail, und so bekam ich die Unterkunft in Newton. Ein paar Tage vor meiner Abreise schickte ich Julia eine Mail, und sie lud mich ein, bei ihnen zu wohnen.
Aber als ich schließlich im Bus von Boston zum Haus meiner Verwandten saß, waren es nicht mehr einzelne Tätigkeiten – mit dem Auto fahren, das Gepäck aufgeben, die Busfahrkarte kaufen –, sondern ich war im Begriff, aus keinem ersichtlichen Grund zu Leuten zu gehen, die ich kaum kannte. Im Bus
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