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Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesse Andrews
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Einzelheiten nicht; wir wussten nur, dass die Einzelheiten langweilig waren. Wir wussten auch, dass diese Technologie aus einem bestimmten Grund ihren Weg in unser Leben gefunden hatte: damit wir jede einzelne Szene aus Aguirre, der Zorn Gottes wiederauferstehen lassen konnten.
    Wir veranschlagten dafür etwa einen Nachmittag. Stattdessen dauerte es drei Monate, und mit »es« meine ich, »die ersten zehn Minuten des Films wiederauferstehen zu lassen und dann entnervt aufzugeben.« Wie Werner Herzog im südamerikanischen Dschungel stießen auch wir auf fast unüberwindbare Rückschläge und Widrigkeiten. Ständig löschten wir aus Versehen bereits gedrehtes Material oder vergaßen die Kamera einzuschalten oder die Batterien waren leer. Wir wussten nicht genau, wie die Beleuchtung oder der Ton funktionierte. Einige Schauspieler – meistens Gretchen – erwiesen sich als unfähig, ihren Text richtig aufzusagen oder ihre Rolle überzeugend zu spielen oder nicht in der Nase zu bohren. Außerdem bestand unsere Besetzung meistens nur aus drei Personen – beziehungsweise zwei, weil einer die Kamera halten musste. Als Drehort diente uns der Frick Park, wo andauernd Jogger und Hunde ins Bild liefen, die alles noch weiter vermasselten, indem sie eine Unterhaltung mit uns anfingen.
    F: Dreht ihr hier einen Film?
    A: Nee. Wir eröffnen ein italienisches Restaurant im mittleren Preissegment.
    F: Hä?
    A: Ja, natürlich drehen wir einen Film.
    F: Worum geht’s in dem Film?
    A: Wir machen eine Dokumentation über die menschliche Blödheit.
    F: Kann ich mitmachen?
    A: Wir wären ja schön blöd, Sie nicht mitmachen zu lassen.
    Hinzu kam, dass Requisiten und Kostüme unmöglich nachzubilden waren. Earl hatte einen Topf auf, was lächerlich wirkte. Wir besaßen nichts, was Kanonen ähnelte oder Schwertern. Mom erlaubte uns auch nicht, Einrichtungsgegenstände aus dem Haus mit in den Park zu nehmen, und als wir es eines Tages doch taten, wurde uns die Kamera für eine Woche entzogen.
    Außerdem stellten wir uns extrem bescheuert an. Wenn wir im Wald ankamen, hatten wir komplett vergessen, an welcher Aufnahme wir gerade arbeiteten, oder falls wir uns erinnerten, wussten wir unseren Text nicht mehr oder die Kameraeinstellung und wo die Schauspieler gestanden und in welche Richtung sie sich bewegt hatten; wir mühten uns dann erfolglos ein Weilchen ab, etwas zu drehen, von dem wir meinten, dass es stimmte. Anschließend gingen wir nach Hause, um aufzuschreiben, was zu tun war, aber dann gab es irgendwie Mittagessen oder wir landeten vor dem Fernseher oder so; am Ende eines Drehtags versuchten wir dann alles auf den Computer zu packen, aber es fehlten immer irgendwelche Aufnahmen, und die Szenen, die überlebt hatten, sahen beschissen aus – schlecht ausgeleuchtet, unverständliche Dialoge, verwackelte Kamera.
    Das ging monatelang so, und irgendwann wurde uns klar, wie langsam wir vorankamen, und gaben auf, nachdem wir zehn Minuten Film zustande gebracht hatten.
    Dann bestanden Mom und Dad darauf, sich unser Werk anzusehen.
    Es war ein Alptraum. Zehn Minuten lang schauten Earl und ich voller Entsetzen auf den Bildschirm, wo wir durch die Gegend tappten und mit Pappröhren und Wasserpistolen herumfuchtelten und deutsches Fantasie-Kauderwelsch brabbelten, ohne die fröhlichen Jogger, Familien und Senioren mit ihren Beagles weiter zu beachten. Wir hatten schon vorher gewusst, dass der Film schlecht war, aber jetzt, als Mom und Dad dabeisaßen und zuschauten, kam er uns noch zehnmal schlechter vor. Wir sahen jetzt völlig neue Dinge, die beschissen waren: dass der Film keinen richtigen Plot hatte, zum Beispiel, und wir vergessen hatten, Musik zu unterlegen, und dass man ganz oft nichts sehen konnte und Gretchen mehr oder weniger nur wie ein Haustier in die Kamera starrte und Earl offensichtlich seinen Text nicht gelernt hatte und ich immer immer immer diesen dümmlichen Gesichtsausdruck hatte, als hätte ich mich gerade einer Lobotomie unterzogen. Und das Schlimmste war, dass Mom und Dad so taten, als würde er ihnen gefallen. Sie sagten andauernd, wie beeindruckend er war, wie gut sie unsere schauspielerischen Leistungen fanden, wie sie es gar nicht fassen konnten, dass wir so etwas Tolles zustande gebracht hätten. Tatsächlich bewunderten sie diesen unsäglichen Müll auf dem Bildschirm unter lauter Ohs und Ahs.
    Im Prinzip behandelten sie uns wie Kleinkinder. Ich hätte mich am liebsten umgebracht. Earl sich auch. Stattdessen saßen

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