Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
soliden 4.0, was normal ist. Aber bei »ohne Grund« war er schon auf 9.4 hochgerauscht, und bei »Ausrede« hatte er die vollen 10.0 erreicht. Es kann gut sein, dass er die Skala gesprengt hat.
Rachel war definitiv nicht begeistert von dem Satz.
»Nächstes Mal kannst du vielleicht ohne Ausrede kommen.«
»Ja, ist mir auch gerade klargeworden, äh, ja.«
»Oder du brauchst auch gar nicht zu kommen.«
»Nein. Was redest du da?«
»Nichts.«
»Ich hab doch nur einen Witz gemacht.«
»Ich weiß.«
»Grrrrr.«
Wir sagten beide nichts, darum machte ich das Geräusch noch mal.
»Urrrgnnrrr.«
»Was ist das für ein Geräusch?«
»Zerknirschter Eisbär.«
Prust.
»Eisbären sind die zerknirschtesten Tiere der Erde. Die Wissenschaft rätselt, woher das kommt. Aber sie verfügen über die reinsten Ausdrücke des Bedauerns im ganzen Tierreich. Hör mal, wie schön und wehmütig sie klingen: Urrrrrrrngh.«
Prust, hust. Dann sagte Rachel: »Du solltest mich übrigens nach Möglichkeit nicht zum Lachen zu bringen.«
»Ups, ’tschuldigung.«
»Nein, also ich mag den Eisbären, aber es tut ein bisschen weh, wenn ich lache.«
»Siehst du, nun bin ich zerknirscht, weil ich die Sache mit dem Eisbären gebracht habe, und diese Zerknirschtheit führt nur dazu, dass ich das Eisbärengeräusch noch mehr machen will. Weil der Eisbär so zerknirscht ist.«
Schwaches Prusten.
»Der Eisbär bedauert einfach alles . Er liebt Fische und Robben. Sie sind seine Freunde . Es ist ihm zutiefst zuwider , dass er sie töten und fressen muss. Aber er wohnt zu weit oben im Norden, als dass er zum Biosupermarkt gehen könnte und … «
PRUUUST
»’tschuldigung, ’tschuldigung. Ich hör schon auf.«
»Snnrnn. Ist okay.«
»Ja.«
Wieder Schweigen. Ich schaute versehentlich auf Rachels gekocht aussehenden kahlen Kopf und bekam wahrscheinlich zum vierzehnten Mal seit meinem Eintreffen dieses heiße/juckende Hautgefühl.
»Und, wie fühlst du dich?«, fragte ich.
»Ziemlich gut«, sagte sie. Das war offensichtlich gelogen. Sie hatte anscheinend außerdem beschlossen, mehr zu reden, damit ich mir weniger Sorgen machte, aber das Reden schien sie irgendwie anzustrengen. »Ich fühle mich nur irgendwie schwach. Es tut mir leid, dass ich dich angeblafft habe, als du gesagt hast, du hättest eine Ausrede gebraucht, um mich zu besuchen. Ich hab dich nur angeblafft, weil ich krank bin.«
»Wenn ich krank bin, werde ich total unausstehlich.«
»Hhm.«
»Du siehst gut aus«, log ich.
»Tu ich nicht«, sagte sie.
Ich wusste nicht, wie ich es bestreiten sollte. Ich konnte schlecht glaubhaft darauf bestehen, dass sie nach einer Woche Krankenhaus wirklich gut aussah. Niemand sieht danach gut aus. Schließlich entschied ich mich für: »Du siehst definitiv gut aus für jemanden, der gerade eine Chemo gekriegt hat«, und das schien sie zu akzeptieren.
»Danke.«
Dann war die Besuchszeit zu Ende, und ein Pfleger kam herein und sagte mir, ich müsse gehen, und wenn wir ehrlich sein sollen, habe ich das ein bisschen bedauert, einfach weil ich, was das Aufmuntern von Rachel betraf, nur eine mittelmäßige Leistung gebracht hatte und gern noch ein bisschen weitergemacht hätte. Aber wenn ich jetzt damit als guter Mensch dastehe, dann täuscht ihr euch. Der Grund war nämlich, dass das Aufmuntern von Rachel eine Kunst war, die ich inzwischen richtig gut beherrschte, und wenn man etwas gut kann, dann will man es die ganze Zeit tun, weil es Spaß macht. Wenn ich also mit Rachel herumhängen wollte, dann hauptsächlich aus eigennützigen Motiven.
»Warte mal, was ist das denn für eine Zeichnung auf deinem Gips?«, fragte Mom im Auto.
»Ach, die Dinger«, sagte ich. Ich überlegte mir fieberhaft, aber mir fiel nichts ein, also musste ich einfach ehrlich sein. »Das sind Titten.«
»Krass!«, kreischte Gretchen, und wir fuhren nach Hause, und dann bekam ich zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder etwas Normales zu essen, woraufhin mein Magen vollkommen verrücktspielte, und glaubt mir, es ist besser, ich erspare euch die Einzelheiten.
Vierundzwanzigstes Kapitel – Käsiger Teenager erlebt einen Tag ohne Höhen und Tiefen
Es war ungefähr die zweite oder dritte Oktoberwoche, als die Geschichte mit meinem Arm passierte. Glaube ich jedenfalls. Ich habe keine Lust nachzusehen. Muss ich euch einen Grund nennen, warum ich keine Lust habe nachzusehen? Sollte ich wahrscheinlich, und das nervt. Als Begründung müsste ich behaupten, dass es
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