Ich versprach dir die Liebe: Roman (German Edition)
außergewöhnlich begabtes, eher jungenhaftes Kind gewesen. »Es ist wirklich tragisch«, hatte sie gesagt. »Alles, was meine Großmutter hinterlassen hat, ist einNachruf. Meine Mom hat keine Erinnerung an sie. Aber ein paar Worte auf einem Grabstein – das ist nicht sehr viel.«
Eine merkwürdige Äußerung für ein Kind, und noch merkwürdiger, dass ich mich daran erinnerte. Aber diese Worte blieben mir immer im Gedächtnis. Elle war faszinierend, allerdings hätte ich das damals nie und nimmer zugegeben. Immerhin war sie ein Mädchen, die Kleine von nebenan, und nur im Notfall als Spielkameradin zu gebrauchen. Weil sie ein Mädchen war. Ich war noch in dem Alter, wo man Mädchen nicht leiden konnte. Zumindest in der Öffentlichkeit.
Wortlos ging sie über die Wiese und umrundete die Gräber, als hätte sie Angst, das Betreten der Ruhestätten könne Geister aufwecken. Mit dem Finger fuhr sie die eingemeißelten Worte nach. »Alle Frauen in der Familie meiner Mutter sind gestorben, ehe sie vierzig waren. Sieh mal. Diese hier ist die Älteste.«
Nur wenige Jahre später starb auch Elles Mutter noch vor ihrem vierzigsten Geburtstag an Krebs.
Und jetzt Elle. Ich hatte Elle verloren.
In der Morgenstille stand ich zwischen moosigen Steinen, die an das verlorene Leben dieser viel zu früh verstorbenen Frauen erinnerten.
Ich war nicht mehr der kleine, insgeheim von einem flachshaarigen Mädchen faszinierte Junge. Ich war Elles Ehemann, und so unglaublich es mir auch erscheinen mochte – ich würde sie neben ihrer Mutter und ihren Großeltern beerdigen müssen. Ja, die Frauen in ihrer Familie sind alle jung gestorben. Aber ich war entschlossen, dass der Nachruf nicht Elles einziges Vermächtnis bleiben sollte.
Unter den Bäumen war es nicht sehr sonnig, doch die Helligkeit reichte aus, um ein paar schattenliebende Pflanzen gedeihen zu lassen. Im Frühling blühten hier Tränende Herzen, im Sommer waren es Funkien. Elle sollte einen Blumengarten bekommen. Sie liebte Blumen. Vielleicht dort drüben am Zaun. Dort schien öfter die Sonne. Ich könnte auch ein paar Bäume fällen, um mehr Licht zu erhalten.
»Bitte, lieber Gott«, sagte ich. »Wenn es soweit ist, kümmere dich um sie.« Schwer vor Trauer schlich ich über den dicken Teppich aus Tannennadeln, setzte mich an die Stelle, die ich für sie vorgesehen hatte, und ließ meinen Tränen freien Lauf. Die Aussicht auf einen Himmel und die Gnade Gottes tröstete mich nicht – zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht würde es nie dazu kommen.
»Was willst du von mir? Soll ich dir etwa dafür danken? Erwartest du, dass ich dem Glauben näherkomme, indem du mir den einzigen Menschen nimmst, an den ich je geglaubt habe?«
Mein Glaube, das war sie – die Liebe, die wir teilten und die so zuverlässig war wie das Licht eines weit entfernten Sterns, das seit unermesslichen Zeiten die Leere des Weltraums durchdrang.
Zeit, die wir vergeudet hatten.
»Zeit, die du uns genommen hast«, schrie ich.
Ich war wütend auf Gott – falls er überhaupt existierte. Und zum ersten Mal in meinem ganzen Leben spürte ich fast sicher, dass es ihn gab. In meinem Kopf wirbelten Schlagworte. Gottes Pläne. Vertrau auf ihn. Manchmal geschehen Wunder. Lazarus. So sehr hat Gott die Welt geliebt. Auferstehung. Christus.
Ich brauchte Elle. Und das Baby brauchte mich.
»Bitte, Gott«, flüsterte ich. »Bitte!«
43
Tag 26
C lint Everest saß im Zeugenstand. »Die Gerinnung des mütterlichen Blutes verhindert, dass die Plazenta ausreichend versorgt wird. Der Fetus stirbt ab, und es kommt zum Abort«, sagte er. »In sehr vereinfachter Form ist das die Symptomatik von APS .«
»Steht zu erwarten, dass Elle Beaulieu auch dieses Mal eine Fehlgeburt erleidet?«, fragte Jake.
»Nicht aufgrund ihres APS . Wir behandeln sie mit Heparin, einem Blutverdünner. Sobald die Diagnose feststeht, sinkt die Fehlgeburtsrate signifikant.«
Hinter Clints Worten verbarg sich der Hinweis, dass Elle natürlich sehr wohl eine Fehlgeburt erleiden konnte, und zwar wegen ihrer schweren Hirnverletzung. Himmel, sie konnte nicht einmal mehr blinzeln. Als ich an diesem Morgen ihr Zimmer verließ, träufelte die Krankenschwester ein Mittel in ihre Augen, damit sie nicht austrockneten.
Clint und Jake waren dabei, die Komplikationen von Elles Schwangerschaft zu erörtern. Gefährdete das APS auch Elle oder nur das Baby? Ja. Vielleicht. Noch nicht. Das APS konnte sämtliche Organe beeinträchtigen. Das Gleiche
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