Ich war Hitlerjunge Salomon
aktiver Offizier der Waffen-SS gewesen
und hatte 1940 in Frankreich gekämpft, wo er verwundet
wurde und ein Bein verlor. Beim Sprechen klopfte er mit
der Faust auf seine Prothese. Der Klang war eindeutig. Nach
seiner Genesung hatte man ihm mehrere Posten angetragen,
und er hatte diesen gewählt.
– Vierzig Jahre später sollte ich ihn in seinem Haus in
Braunschweig wiedertreffen. Das war im November 1985:
Der Bürgermeister von Peine hatte mich als Ehrengast zur
Einweihung des Mahnmals eingeladen, das an die Zerstörung
der Synagoge erinnern soll, die in der sogenannten Kristall-
nacht niedergebrannt worden war. Eingeladen worden war ich
als ein in Peine geborener Jude, der den Holocaust überlebt
hat. Die Geschichte meines Überlebens kannten sie jedoch
nicht. Ich nahm die Einladung mit gemischten Gefühlen an.
Seit Kriegsende war ich nicht mehr in Deutschland gewesen.
Die Gedenkveranstaltung umfaßte auch einen von einem
Jugendverband angeführten Fackelzug bis zum Standort der
ehemaligen Synagoge. Wie gerne war ich mit meinem Vater
dort hingegangen, besonders an Simchat Thora , dem jüdischen
Feiertag, an dem die Kinder mit Bonbons und Nüssen bewor-
fen werden! Im Vorübergehen bemerkte ich, daß der Name
der Straße, die zu dem Platz führte, die Bodenstetterstraße,
rot durchgestrichen und durch den Namen Hans Marburger
ersetzt worden war. Sofort fiel mir mein jüdischer Kinderfreund
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Hans ein. Sein Haus grenzte an das meine, und wir waren
häufig zusammen. Ich fragte meinen Nebenmann, den Nef-
fen des von den Nazis ermordeten Sekretärs der damaligen
Ortszelle der Kommunistischen Partei, ob die Straße nach
dem nämlichen Hans benannt worden sei, und er erzählte
mir eine erschütternde Geschichte. In der sogenannten Kri-
stal nacht waren drei SA-Männer in das Haus der Marburgers
eingedrungen und über den Vater hergefal en. Sein Sohn Hans
versuchte ihn mit unvorstel barem Mut gegen die Angreifer zu
verteidigen. Er wurde sofort gepackt, brutal in den Wagen der
Horde geworfen und in die Synagoge gefahren. Dort sperrte
man ihn, an Händen und Füßen gefesselt, in das Allerhei-
ligste. Die Synagoge brannte nieder, und mit ihr verbrannte
Hans Marburger, der unbekannte Held. Sein »Verbrechen«
hatte darin bestanden, seinem Vater gegen die enthemmte
Bande zu Hilfe kommen zu wollen. Er war fünfzehn Jahre
alt. Gesegnet sei sein Andenken!
Am Tag nach der Gedenkveranstaltung, bei der man
mir diese Geschichte erzählt hatte, suchte ich den ehema-
ligen Heimführer Karl R. auf. Das mag vielleicht zunächst
unverständlich wirken. Wie nach der Schilderung einer
solch unmenschlichen Tat meine am folgenden Tag statt-
findende Begegnung mit einem Mann plausibel machen,
der diese Barbarei repräsentierte? Auch mir ist dies nicht
leichtgefallen.
Ich habe meinen Bericht eine lange Weile unterbrochen.
Es gelingt mir nicht, auch schriftlich nicht, von Hans’ tra-
gischem Tod zu der Beschreibung einer von solch obskuren
Motiven geleiteten Begegnung überzugehen. Es gibt keine
Rechtfertigung für mein bereitwilliges Treffen mit Karl R.,
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es sei denn, das Leben selbst lieferte sie; Persönlichkeit und
Charakter eines Menschen sind manchmal Grund genug.
Die natürliche Neigung zur Rachsucht macht manchmal der
Großmut Platz. Ein Händedruck muß nicht notwendigerweise
Vergebung bedeuten, er kann im Gegenteil eine seelische Größe
zum Ausdruck bringen, die eine Mischung aus Verachtung
und menschlichem Sieg über Haß und Verbrechen darstellt.
Dem Treffen mit Karl R. vorausgegangen war folgendes:
Als ich mich bei der Gedenkfeier schließlich bewegt an das
Publikum und insbesondere an die Jugend wandte, griff ich
in meiner kurzen Rede die gerade gehörte Geschichte auf
und pries die Größe und den Mut des jungen Hans. Er hatte
auch vor einer physischen Konfrontation nicht Halt gemacht,
obwohl seine Chancen gleich Null waren. Am folgenden Tag
lud mich die Lokalzeitung zu einem Interview mit den Redak-
teuren ein. Im Verlauf der lebhaften Unterhaltung bei einer
Tasse Kaffee fragte mich einer der Journalisten, unter welchen
Umständen ich den Krieg überlebt hätte. »Da kann ich Ihnen
eine interessante Geschichte erzählen«, erwiderte ich. »Ich
habe die meiste Zeit ganz in der Nähe in Ihrer Nachbarstadt
Braunschweig verbracht. Ich sah wie ein Deutscher aus und
hielt mich in den Reihen der Hitlerjugend verborgen. Ich bin
sogar in Uniform in den
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