Ich war Hitlerjunge Salomon
Peiner Straßen spazierengegangen,
genau hier unter den Fenstern Ihrer Zeitung.«
Die Anwesenden begriffen den Sinn meiner Antwort nicht.
Ich erriet es an ihren erstaunten Mienen und an den skepti-
schen Blicken, die sie einander zuwarfen. Ich nannte darauf-
hin Einzelheiten. Als ich geendet und ihre Zweifel zerstreut
hatte, fragte man mich: »Sind Sie seither nach Braunschweig
zurückgekehrt?« Ich verneinte. »Würden Sie uns begleiten, um
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dort jemanden zu treffen, viel eicht den Heimführer, von dem
Sie gesprochen haben?« Der junge Journalist insistierte, er
witterte eine außergewöhnliche Geschichte.
Nach reiflicher Überlegung und etwas zögerlich willigte
ich ein. Ich übersah die Tragweite dieser Zustimmung nicht,
die eine solche Begegnung für mich selbst haben würde. Ich
würde mich dem Gewesenen stellen, würde wieder eine phy-
sische Verbindung zu einer Vergangenheit schaffen, die ich
mich bemüht hatte zu verdrängen und an die ich möglichst
nicht rühren wollte. Ich würde den in mir schlummernden
Jupp wieder aufleben lassen und Überlegungen auslösen, die
mir und nur mir gehörten, Gedanken, die ich mit ins Grab
nehmen wol te. Ich wol te sie tief in meinem Innern verbergen,
weil ich fühlte, daß sie zu angreifbar und zu komplex waren,
als daß ich sie anderen hätte anvertrauen mögen. Zudem
gingen sie mit mir zu hart ins Gericht.
Die Reise zu einer vierzig Jahre entfernten Vergangenheit
dauerte zwanzig Minuten. Ich erkannte die mir einst vertrauten
Straßen und Gebäude von Braunschweig sofort wieder. Ich
erinnerte mich an den Weg, der zur Schule in die Gifhorner
Straße 180 führt. Wir waren schnell da. Aber jetzt rieb ich mir
verwundert die Augen. Hatte mich mein Gedächtnis doch ge-
trogen? Es gab kein Hauptgebäude mehr, Ausdruck Hitlerscher
Machtarchitektur, auch keinen Wohntrakt mehr, weder Rasen-
noch Sportflächen noch Schwimmbad oder Speisesaal waren zu
entdecken, stattdessen Ödland. Das Volkswagenwerk hatte sich
bis hierher ausgedehnt. Als einziger Zeuge der Vergangenheit
war das Gebäude mit den Klassenzimmern stehengeblieben,
in dem sich jetzt die technischen Büros des Werks befanden.
Al es, was das damalige Al tagsleben ausgemacht hatte – Essen,
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Schlaf, Sport usw. – war zerstört worden und existierte nicht
mehr. Übrig blieben sozusagen lediglich die Klassenzimmer,
in denen ich drei Jahre lang auch in nationalsozialistischer
Rassenkunde unterrichtet worden war.
Ich entsann mich sofort wieder, wie man zu R.’s Woh-
nung kam. Das Haus lag dicht bei der Schule, und ich ging
dort manchmal spazieren. Aber wir wurden enttäuscht. In
der Wohnung lebten jetzt Leute, die von den Mietern der
vierziger Jahre absolut nichts wußten.
Wir fragten eine alte Dame, die die Straße überquerte,
und sie erinnerte sich an den »Invaliden Karl«. Sie konnte
uns sagen, daß er neu angefangen hatte und Zahnprothesen
herstel te, wußte aber nicht, wo er jetzt wohnte. Mit Hilfe des
Telefonbuchs der Dame fanden wir, was wir suchten.
Ich wählte Karls Nummer. Am anderen Ende der Leitung
meldete sich seine Frau. Ohne meinen Namen zu nennen,
stellte ich mich als ehemaligen Schüler ihres Mannes vor und
bat um ein Treffen, damit wir gemeinsame Erinnerungen
austauschen könnten. »Oh! Das wird Karl sicher freuen. Er
ist gerade weggegangen, kommt aber in ein paar Minuten
wieder. Kommen Sie doch bitte zu uns!«
Wir notierten die Adresse und machten uns auf den Weg.
Schon von weitem erkannte ich die Gestalt in der Eingangstür,
es war der ehemalige Heimführer Karl R. Ich wußte, daß mich
dieses Treffen auf Pfade führen würde, auf die ich eigentlich
keinen Fuß mehr setzen wollte. Ich empfand Schrecken und
Ekel, aber auch eine Art diffuser Hingezogenheit. Tatsache
ist, daß ich vor ihm stand.
»Willkommen, Jupp! Wie geht es dir, was führt dich her?«
sagte er sichtlich bewegt und bot mir die Hand. Eher ernst
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denn freudig lächelnd ging ich auf ihn zu, und wir reichten
uns die Hand. Ich brach das Schweigen.
»Karl, ich möchte dir etwas sagen. Ich heiße nicht Josef
Perjell, sondern Salomon Perel und bin Jude!«
Er verstand nicht, auch nicht, als der Journalist dies bestä-
tigte. Karl sah ihn an, wandte sich nach mir um und wurde
bleich. Al mählich verdaute er das Ungeheuerliche, das er sich
in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hätte.
Er war verwirrt und erregt. Plötzlich breitete er wortlos
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