Ich war Hitlerjunge Salomon
die
Arme aus und drückte mich an sich. Dann sagte er leise: »Oh
Gott, oh Gott, wie schön, dich zu sehen …«
Er hatte seiner aufrichtigen Freude spontan Ausdruck gege-
ben. Ich wollte nicht als Rächer auftreten, ich wollte lediglich
die Dinge zurechtrücken. Und doch war dies eine menschliche
Begegnung, in der ich meinen Gefühlen nachgab, ohne die
Vergangenheit zu vergessen. Wir weinten zusammen.
Doch kehren wir zur Vergangenheit zurück.
Nachdem ich mich von Karl R. mit dem Hitlergruß ver-
abschiedet hatte, schickte man mich in die Kleiderkammer,
wo ich die Ausstattung eines Hitlerjungen erhalten sollte.
Nach al der quälenden Ungewißheit, der entsetzlichen Reise,
der Allgegenwart der braunen Uniformen und den schwarzen
Zukunftsaussichten war der Anfang vielversprechend. Rasch
lernte ich, alles zu schlucken, meine fünf Sinne beieinander-
zuhalten, meine Angst zu unterdrücken und selbstsicher zu
wirken.
Völ ig gelassen betrat ich die Kleiderkammer, wo mich zwei
nicht mehr ganz junge Frauen empfingen. Ich sagte Guten Tag,
sie erwiderten mit einem »Heil«. Widerstrebend versetzte ich:
»Heil Hitler«. Die eine fragte mich, ob ich derjenige sei,
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der von der Ostfront käme. Ich bejahte und stellte befrie-
digt fest, daß auch hier meine Aktien gut standen. Sie legten
verschiedene Sachen auf die breite Theke, die uns trennte:
eine komplette Sommer- und eine komplette Winterausstat-
tung, zwei Mappen, Feld- und Arbeitskleidung, Socken und
Schuhe. Überrascht sah ich, wie eine der Frauen neben den
Kleiderhaufen das Koppel mit dem Dolch der Hitlerjugend
legte, auf dem »Blut und Ehre« stand. Mich schauderte, und
ich zuckte davor zurück, es zu nehmen. Wurden die gleichen
Messer nicht gegen Juden und Regimegegner benutzt?
Meine Überlegungen wurden unterbrochen: »Probier das
Koppel an, wollen sehen, ob es paßt, oder ob du ein anderes
brauchst!« Ich überwand mich und schnallte den Gürtel um.
Beladen mit Sachen, die Eigentum des Dritten Reichs waren,
kehrte ich in mein Zimmer zurück und legte alles auf mein
Bett. Brennende Neugier trieb mich, sofort in meine neue
Uniform zu schlüpfen. Ich wollte mich im Spiegel betrachten,
wollte wissen, wie ich in diesem Aufzug aussah. In Wahrheit
wollte ich Jupp begrüßen, den Neuling in der Hitlerjugend.
Das Bett war sauber und gemacht, Laken und Decken
waren blau-weiß kariert. Mein Blick blieb von neuem an dem
in Fraktur geschriebenen, eingerahmten Spruch hängen, der
behauptete, der Bauernstand halte das germanische Blut rein,
und ich dachte: »Wie denn! Bin nicht auch ich dazu bestimmt,
bald ein deutscher Bauer mit einem eigenen Hof zu werden?
Was ist dann mit der Rassenreinheit?«
Der Heimführer schaute in mein Zimmer und teilte mir
höflich lächelnd mit, es sei Zeit zum Abendessen. Ich solle
mich fertigmachen und meinen Geländeanzug anlegen, in dem
man geordnet in den Speisesaal marschiere. Ich beeilte mich
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mit dem Einräumen und duschte mich schnell alleine, bevor
die anderen zurückkamen. Im Umkleideraum zog ich mich
hastig im hintersten Winkel aus und sprang in die Dusch-
kabine. Ich hatte noch eine herrliche Duftseife aus Estland,
die unter heißem Wasser üppigen Schaum entwickelte. Jupp
fühlte sich in diesem Moment rundherum wohl. Er bekam
Lust, die berühmte Bajazzo-Arie zu singen, die er so mochte.
Leoncavallos Bajazzo weint und lacht gleichzeitig.
Nicht lange jedoch, und die Duschen sollten für mich von
einem Ort der Entspannung und des Wohlbefindens zu einem
beängstigenden Gefahrenpunkt werden. Schwierig wurden die
Dinge nämlich, als mein mitgebrachter Seifenvorrat erschöpft
war. Ich mußte auf die einzige Seife zurückgreifen, die es in
Deutschland gab, die RIF-Seife. Sie war von außerordentlich
schlechter Qualität, roch ekelhaft und schäumte nicht, was
mich maßlos aufregte. Ich rieb wie verrückt, um die nötige
Menge Schaum zu erhalten.
Um meine Beschneidung zu verbergen, wandte ich eine
einfache, wirkungsvolle Methode an. Ich entkleidete mich in
Windeseile, behielt meine Unterhose an und hüpfte sofort in
die Kabine. Dort erst zog ich mich völlig aus, nachdem ich
die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Ich erzeugte soviel
Schaum, wie nötig war, um die »gefährliche Körperpartie«
zu bedecken, damit niemand, der zufällig hereinschaute, sah,
daß der, Neuling Jupp beschnitten war.
Die Methode erwies sich als probat. Dennoch fühlte ich,
daß sich das
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