Ich war Hitlerjunge Salomon
»Operationsfäden« lösen müssen. Trotzdem
hatte ich gehofft, die Manipulation würde sich als erfolgreich
erweisen. Doch je größer die Hoffnung, desto tiefer die Ent-
täuschung. Die Haut zog sich wieder zusammen, und mein
Problem bestand nach wie vor.
Ist es schon schwierig, ein Jude zu sein, so ist es noch viel
schwieriger zu versuchen, keiner zu sein.
Ich entsann mich einer Unterhaltung zwischen Frontsol-
daten, in der es sich um den Penis gedreht hatte. Jemand
hatte erklärt, die Natur habe dem Geschlecht des Mannes
außerordentliche Selbstheilungskräfte verliehen; dank der
Fettschichten der Haut heile jede Wunde oder Entzündung
rasch ab. Ich hatte dies im Gedächtnis behalten und beschloß
nun, einfach abzuwarten. Zu meiner großen Freude stel te ich
fest, daß dieser Jemand tatsächlich recht gehabt hatte. Ohne
behandelt worden zu sein, ging die Entzündung immer mehr
zurück und verschwand schließlich ganz.
99
Ich feierte meine Heilung mit ein paar Schlückchen Likör;
den hatte ich mir nämlich noch als Geheimvorrat aufbewahrt.
Ich würde mich gewiß nicht mehr in die Arbeit des Mohel
einmischen!
Nie hatte ich meinen Eltern einen Vorwurf daraus ge-
macht, mich in den Bund Abrahams, unseres Stammvaters,
eingeführt zu haben. Das war für mich selbstverständliche
Realität, ebenso selbstverständlich, wie ich Salomon hieß und
dieses Gesicht und kein anderes hatte. Weder wol te ich meine
Herkunft leugnen, noch sie verwerfen. Ich wußte nur, daß
ich, bis diese dunkle Zeit vorüber war, eine Lösung für mein
Identitätsproblem finden mußte. Ich wollte durchhalten, bis
die Freiheit kam. Diese Zuversicht und die Gewißheit, daß
meine Existenz an diesem Ort nicht von Dauer sein würde,
hielten mich aufrecht.
Am ersten Tag in der Schule hatte ich mich also geduscht
und war in meiner neuen Uniform gutgelaunt auf das Zimmer
zurückgekehrt. Wie oft hatte ich sagen hören: »Der Schein
trügt!« Jetzt aber stellte ich fest, daß genau das Gegenteil zu-
traf. Ruhig und sorgfältig hatte ich die schreckliche Uniform
angelegt und vor dem Spiegel zu mir gesagt: »Schloimele, bist
du es?« Trauer und Entsetzen huschten über mein Gesicht,
erloschen jedoch ebenso rasch wieder, und ich lächelte mir
siegesgewiß zu: »Bis jetzt habe ich Glück gehabt, und ich
werde auch weiterhin Glück haben!«
Jupp, der Hitlerjunge, und Salomon, der Jude, vertrugen
sich wie Feuer und Wasser. Dennoch existierten beide in
demselben Körper, in derselben Seele.
Auf dem Flur hörte ich Stimmen näherkommen. Ich setzte
eine ernste Miene auf. Mein Herz pochte. Wer mochten diese
100
jungen Männer sein? Wie würden sie in dieser strohblonden
Umgebung auf meine Erscheinung reagieren? Was für ein
Typ mochte mein Zimmergenosse sein?
Während mich diese Fragen beschäftigten, öffnete sich die
Tür, und mein Bettnachbar trat ein. Natürlich war er blond und
sah gut aus, hatte aber das Gesicht eines verzogenen Kindes.
Überrascht blieb er in der Tür stehen, als er den Fremden in
seinem Zimmer sah. Ich lächelte ihn sofort an und stel te mich
als den Neuen vor. Ich umriß kurz den Lebenslauf, den ich
mir zugelegt hatte. Er gab seiner Freude darüber Ausdruck,
mit mir das Zimmer zu teilen, grüßte mich mit einem »Heil!«
und stellte sich seinerseits als Gerhard R. vor.
Ich hatte sogleich das Gefühl, daß mir dieser Junge keine
Unannehmlichkeiten bereiten und ich mich mit ihm verstehen
würde. Wir unterbrachen uns, als wir draußen die Stimme
des diensthabenden Scharführers hörten: »In fünf Minuten
Abmarsch zum Speisesaal!« Ich würde in ihrer Uniform und
in ihren Schuhen mitmarschieren. Laut würden meine Schrit-
te auf den Fliesen hallen, und ich würde mich im Takt des
Links-Rechts, Links-Rechts ihres berüchtigten Marschtritts
fortbewegen, der Europa niederwalzte und die ganze Welt
erschauern ließ.
Ich räumte die letzten Sachen weg und verließ mit Gerhard
das Zimmer. Im Flur reihte ich mich in den Strom der aus
ihren Zimmern flutenden Schüler ein und spürte ihre fragenden
Blicke. Denen, die neben ihm gingen, erklärte Gerhard, ich sei
ein neuer Schüler und komme direkt von der Front. Er hatte
keine Ahnung, welch unschätzbaren Dienst er mir da erwies.
Bei meiner ersten Begegnung mit den anderen lag sogleich
meine Trumpfkarte auf dem Tisch: ich, der freiwillige, der
101
ruhmbedeckte Frontkämpfer! Das sollte mir in den Jahren,
die ich dort
Weitere Kostenlose Bücher