Ich war Hitlerjunge Salomon
neben mich gesetzt und richtete als erster
das Wort an mich. Er konnte seine Neugier kaum bezähmen
und sagte so laut, daß die anderen es hörten: »Los, erzähl!
Wie ist der Krieg dort hinten?« Ich hatte größte Lust, ihm
zu erwidern, er möge zum Teufel gehen und mich in Ruhe
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lassen. Ich war so müde. Aber selbstverständlich fing ich an,
von den Schlachten und dem Leben der im Krieg gegen den
»jüdischen Bolschewismus« kämpfenden Soldaten zu berich-
ten. Ich war nie ein besserer Märchenerzähler als damals. Ich
schlug sie mit meinen Geschichten in den Bann. Mein mili-
tärisches Führungszeugnis, ausgestellt vom Kommandeur der
»ruhmreichen 12. Panzerdivision«, belegte die Glaubwürdigkeit
meiner Erzählungen. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß die
Unterschrift eines aktiven Generalmajors Skepsis erst gar nicht
aufkommen ließ. Übertreibungen vermied ich, ich wußte ja,
welche Bedeutung ein Kriegsheld in ihren Augen hatte.
Eine Stunde nach Beendigung der Mahlzeit saß ich noch
immer in der Gruppe, die sich um mich gebildet hatte. Ich
beantwortete ihre Fragen und beschrieb im Detail, was die
Division durchgemacht hatte. Ihnen blieb buchstäblich der
Mund offenstehen. Dabei waren sie weder dumm noch be-
sonders naiv. Sie gehörten zu jener städtischen Jugend, die
im allgemeinen recht gebildet war. Doch man hatte sie einer
regelrechten Gehirnwäsche unterzogen, man träufelte ihnen das
Gift einer korrumpierten Wissenschaft ein und verwandelte
ihre Vaterlandsliebe in Fanatismus. Man machte aus ihnen
gläubige Anhänger Adolf Hitlers, die ihrem falschen Propheten
mit Haut und Haaren ergeben waren. Dieser Jugend hatte man
jeden eigenen Gedanken, allen kritischen Geist ausgetrieben,
sie folgte blind dem Prinzip: » Führer , befiehl, wir folgen!«
Die NS-Politik verlangte bedingungslosen Gehorsam der
Obrigkeit gegenüber. Eine Diskussion gab es nicht. Gewählt
wurde nicht. Die Mehrheit äußerte sich nicht. Einzig die vielen
kleinen und großen Führer trafen die Entscheidungen, die
die Untergebenen dann widerspruchslos in die Tat umsetzten.
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Die Unterhaltung versiegte, und ich war höchst erleichtert
darüber. Wir verteilten uns auf die Zimmer, obwohl an die-
sem Abend eine Veranstaltung geboten wurde und auch im
Lehrsaal eine Versammlung stattfand. »Hoppla, Schloimele!«
dachte ich, »dir wird hier nicht langweilig werden.«
Im Zimmer setzte sich Gerhard an seinen Schreibtisch und
öffnete seine Hefte. Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit,
mich auf meinem Bett auszuruhen. Meine Gruppe war an
diesem Abend zum Glück vom Dienst befreit worden.
Im zweiten Obergeschoß bereitete nämlich eine Gruppe
Plakate und Informationsmaterial für einen Umzug vor, der,
begleitet vom Schulorchester, durch die Straßen der Stadt
führen sollte, um die Bevölkerung über mögliche Bomben-
angriffe aufzuklären. Man forderte sie auf, die Luftschutzkel-
ler zu reinigen und einzurichten, sie für Notsituationen mit
Löschgerät und Erste-Hilfe-Taschen zu versehen.
Ich ging in den Lesesaal. Mich interessierten besonders
die Frontberichte in den Zeitungen. Ich stieß auf zahlreiche
schwarzumrandete Traueranzeigen unter einem Eisernen Kreuz,
in denen stets dieselbe Floskel verwandt wurde: »Für Füh-
rer , Volk und Vaterland auf dem Feld der Ehre gefallen. Die
trauernden Hinterbliebenen.« Den Berichten zufolge stand an
der Front alles zum Besten, wich der Feind angeblich wegen
schwerer Verluste zurück. Passagen aus Hitlers letzter öffent-
licher Rede wurden zitiert, in denen er in seiner hysterischen
Verblendung behauptete, die Wehrmacht halte problemlos
Holland, Belgien, Norwegen und andere europäische Länder
besetzt. »Sogar Stalingrad ist unser und wird es bleiben …!«
Selbstverständlich waren Tausende von Anhängern abgebildet,
die begeistert dem Führer zujubelten. Zehn Tage später sollte
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in ganz Deutschland eine dreitägige Volkstrauer herrschen,
weil die 6. Armee unter ihrem Oberbefehlshaber General-
feldmarschall von Paulus von der Roten Armee aufgerieben
worden war.
Auf den Innenseiten machte mich ein kleiner Artikel über
den Madagaskar-Plan stutzig, dem zufolge die Juden vertrieben
werden sollten, damit Europa »judenrein« werde. In diesem
Zusammenhang ist folgende Tatsache bemerkenswert: Ich
freute mich nicht über den Sieg der Russen in Stalingrad,
und die geplante Vertreibung nach Madagaskar beunruhigte
mich nicht
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