Ich war Hitlerjunge Salomon
wahrscheinlich wieder heraus, aber auf meinem letzten
Weg.
Ich hatte einfach nicht das Recht, krank zu werden. Mühelos
fand ich Fräulein Köchys Büro und meldete mich bei ihr. Sie
war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, Brillenträgerin, wirkte
sympathisch, aber fast häßlich und völlig unweiblich. Später
nannte auch ich sie bei ihrem Spitznamen, das »Bügelbrett«.
Ihr Lächeln und ihre Liebenswürdigkeit gefielen mir aber auf
der Stelle. Ich mochte sie auf den ersten Blick. Noch heute
verbinden uns Zuneigung und Freundschaft, und wir haben
uns mehrmals getroffen. Sie ist noch immer ledig und scheint
heute schöner zu sein als in ihrer Jugend. Sie bat mich, Platz
zu nehmen, und ich freute mich, aus ihrem Munde zu hören,
daß meine jüngste Vergangenheit in der Wehrmacht Eindruck
auf sie gemacht habe. Ihre herzlichen Worte beruhigten mich
und schmeichelten mir.
Über den Grund meiner Anwesenheit freute ich mich weni-
ger. Ich hatte noch einige persönliche Angaben zu meiner Akte
und zu den psychologischen und technischen Tests zu machen,
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die ich ablegen sollte. Ich hatte schon von den Werkstätten
gehört, wußte aber nicht, was man dort tat. Fräulein Köchy
gab mir eine befriedigende Erklärung. Die im Hitlerschen
Geist stehende Schule wage das erste Experiment dieser Art in
Deutschland. Sie verbinde politischen und naturwissenschaft-
lichen Unterricht mit technischer Arbeit in der Produktion,
die im benachbarten Volkswagenwerk gelehrt werde.
Ich beherrschte schon meisterlich die Kunst, meinem Pri-
vatleben ständig »neue« Einzelheiten hinzuzufügen, daher
verlangte mir dieses Verhör keine besondere Anstrengung ab.
Die folgende Frage aber sauste wie ein Keulenschlag auf mich
nieder: »Name und Abstammung der Eltern?« Obwohl mir die
Frage bereits vom gewissenhaften Hauptmann gestel t worden
war und ich damals wie aus der Pistole geschossen geantwortet
hatte, wurde ich einen Augenblick unsicher und errötete. Die
Frage hatte jäh die dicken Schalen durchstoßen, hinter denen
ich mich verschanzt hatte, und im Handumdrehen meinen
schrecklichen Schmerz aufbrechen lassen. Ohne die Lippen
zu bewegen, murmelte ich: »Mama … Papa … wo seid ihr?«
Bittere Tränen stiegen in mir auf. »Ich bedauere, ich kann
Ihre Frage nicht beantworten. Ich bin schon in frühester Ju-
gend im Waisenhaus abgegeben worden. Meine Eltern habe
ich nie zu Gesicht bekommen … Ich bin allein.« Ihre Miene
zeigte unverholenes Mitleid, und sie trug diese Angaben in
meine Akte ein.
Wieder einmal staunte ich, daß falsche Auskünfte arglos
und ohne Überprüfung einfach hingenommen und niederge-
schrieben wurden. Keiner der peinlich genauen Beamten der
verschiedenen Polizeidienststellen, der Gestapo oder Inneren
Sicherheit hatte sich die Mühe gemacht, meinen Angaben auf
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dem Standesamt von Grodno nachzugehen. Ihr Vertrauen
in mich bleibt mir ein Rätsel. Haben diejenigen recht, die
glauben, daß alles in einem Menschenleben von Anbeginn
geschrieben steht?
Die sympathische Sekretärin bemerkte meine Verwirrung
nicht. Gott sei Dank. Das Gespräch verlief reibungslos. »Ja,
ich spreche noch andere Sprachen, Russisch und Polnisch.«
Daß ich in Grodno auch Jiddisch gelernt hatte, erwähnte
ich nicht, dies war der geheime Schatz Salomons, über den
ich Stillschweigen bewahrte. Kurz: Ich wurde als regulärer
Schüler in diese einzigartige Einheit der Hitlerjugend, Bann
468, Niedersachsen Nord, Braunschweig, aufgenommen.
Bevor mich Fräulein Köchy in den Nebenraum zu den
psychotechnischen Tests schickte, tauschten wir noch einige
liebenswürdige Höflichkeitsfloskeln aus. Ich fühlte, wie mir
ihr herzlicher Blick folgte. Ich hatte natürlich nicht verges-
sen, bevor ich das Zimmer verließ, mit einem zackigen »Heil
Hitler!« zu grüßen. In einem faschistischen, totalitären Re-
gime wie diesem konnte man nie wissen, was in den Köpfen
der anderen vorging. Auch deshalb war es unbedingt ratsam,
solche Rituale nicht zu mißachten. Eine Nachlässigkeit in
diesem Zusammenhang konnte das Bild trüben, das ich von
mir abgeben wollte.
Im Nebenbüro mußte ich ein Metallobjekt bis auf das
letzte Stück auseinandernehmen und binnen einer bestimm-
ten Zeit wieder zusammensetzen. Ich gab auch diesmal mein
Bestes. Ich wußte, daß ich dieses kleine Hindernis fehlerlos
überwinden mußte, und der Erfolg war mir beschieden. Ich
zeichnete mich unter den Ersten aus. Ich
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