Ich war Hitlerjunge Salomon
Weg zur Tafel schaute ich in die Klasse
und entdeckte zu meinem großen Erstaunen, daß man mich
ganz normal ansah. Auch der Lehrer war wie immer und
schien keine kleine Hinrichtung im Schilde zu führen. Ich
beruhigte mich.
Dann kam die Überraschung: »Schaut euch alle Josef an!
Er ist ein typischer Abkömmling der ostbaltischen Rasse.« So
sprach der Lehrer. Oh, Himmel, lobet, preiset! Tausende von
Forschungsarbeiten der Nazi-Rassenkundler wurden in diesem
Augenblick ad absurdum geführt. Ihre Kompetenz war entlarvt
als das, was sie war: Null. Ich lächelte verschämt. Man hatte
mir Auftrieb gegeben. Ein ausgewiesener Wissenschaftler hatte
mir ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt. Plötzlich sah ich
mich als koscherer Arier . Ich empfand meine kohlrabenschwarze
Mähne und meine untersetzte Gestalt nicht mehr als Makel,
was mir mehr als einmal mißbilligende und erstaunte Blicke
eingetragen hatte. Dank dir, Bote aus Satans Reich! Du hast
mir wieder Hoffnung gegeben.
– Etwa zwei Wochen nach Kriegsende traf ich diesen »eh-
renwerten« Lehrer am Bahnhof in Hannover. Er hieß Borgdorf.
Ich war auf dem Weg in das Konzentrationslager Bergen-
Belsen und stand ihm plötzlich auf einer Treppe gegenüber.
Er fragte mich erfreut, wie es mir gehe und wohin ich führe.
»Nach Bergen-Belsen in der Nähe von Celle«, antwortete ich.
»Aber ich möchte Ihnen etwas sagen. Sicher erinnern Sie sich
an eine gewisse Unterrichtsstunde in Rassenkunde, in der ich
als der typische Vertreter der ostbaltischen Rasse vorgeführt
wurde. Ich wil jetzt den Irrtum eines großen Wissenschaftlers
korrigieren und Sie darüber aufklären, daß ich keineswegs
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dieser Rasse angehöre und noch weniger Arier bin. Ich bin
von Kopf bis Fuß reiner Jude!« Dieser Mann war anscheinend
ein Meister der Verstellung. Sein unbewegtes Gesicht verriet
keinerlei Gefühl. Er versuchte, sein Wissen erneut unter Be-
weis zu stellen, indem er erwiderte: »Mir sagen Sie das?! Ich
wußte es, habe aber alles vermieden, was Ihnen hätte schaden
können …!« Ich ließ ihn stehen und ging weiter. Ich bin
nicht rachsüchtig. –
Während der letzten Tage, da ich mit der Abfassung dieses
Berichts beschäftigt war, ist es mir gelungen, die Rassentheo-
rie, die man mich gelehrt und die ich vergessen hatte, wieder
zusammenzubringen.
Den Ausführungen unseres »hervorragenden« Lehrers zu-
folge rief die geographische Lage Deutschlands im Herzen
Europas ständig Konflikte mit den Nachbarländern hervor
(was die Geschichte bestätigt). Deshalb waren die Existenz
und die Ehre Deutschlands mittelfristig bedroht. Das Heil
des Deutschen Reiches lag einzig im Ausbau der militärischen
Macht. Um im Kampf zu bestehen, mußte das Volk gesund
und stark sein. Es mußte die Naturgesetze anerkennen und
nach ihnen leben, und das wesentliche Gesetz sei das der
natürlichen Auslese. Überall in der Natur kämpfen die Arten
um ihr Überleben. Die Pflanzen machen sich gegenseitig das
Licht streitig. Die wilden Tiere fal en übereinander her, um ihr
Revier und ihre Nahrung zu verteidigen. Ein flugunfähiger
Jungvogel wird aus dem Nest geworfen …
Somit überlebt, diesem Gesetz der natürlichen Auslese zu-
folge, derjenige, der die anderen bezwingt. Die Natur merzt
mitleidlos alles Schwache und Kranke aus. Der junge natio-
nalsozialistische Staat beschloß, dieses Gesetz rücksichtslos
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anzuwenden. Er begann damit, die Paarung von Schwachen
und Starken zu verhindern. Sozialunterstützung und Wohl-
fahrtsverbände garantierten den Minderbemittelten das Über-
leben. Diese aber trugen zum Volkswohl nichts bei. Nach
den Worten unseres Lehrers rührte das empörende Defizit
des Volksvermögens von der Verschwendung der Gelder her,
die man für die Schwachen und Kranken aufwandte.
Er sagte ebenfal s, daß sich physische, aber auch psychische
Besonderheiten vererbten, so z. B. Wil ensstärke oder im Gegen-
satz dazu Faulheit. Daher erlaube es einzig die Kastration der
erblich belasteten Bevölkerungsschichten, Geisteskrankheiten,
chronische Leiden, Taubstummheit, Blindheit, Körperbehin-
derung usw. ein für allemal auszuschalten.
Zudem gäbe es in der Natur noch ein weiteres unverrück-
bares Gesetz: Die Lebewesen pflanzten sich stets nur innerhalb
derselben Art fort. Ein Adler paare sich nicht mit einem Raben,
ein Tiger nicht mit einer Löwin. Die Ausnahmen, die existier-
ten – wie im Falle des Maultieres, einer
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