Ich war Hitlerjunge Salomon
sagen: »Man darf nicht verzweifeln! Die Zukunft
gehört uns, gehört dir …«
Und hier und in diesem Moment verfaßte ich meine Bitt-
schrift: »Ich, Salomon Sal y Perel, der Jude, Sohn der Rebekka
und des Israel, jüngerer Bruder Isaaks, Davids und Berthas,
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hinterlasse der Nachwelt diese Erklärung. Herr, mein Gott,
der Du bist im Himmel, der Du die Welt und den Menschen
erschaffen hast, wie kann ein unschuldiges Kind zur Einsam-
keit und Qual einer solch grausamen Verfolgung verdammt
werden? Ich habe die Kraft nicht mehr, sie zu ertragen. Ich
bitte Dich, gib mir mein Haus, meinen Vater und meine
Mutter zurück. Ich schließe ein Gebet an, damit der Tag, da
wir wieder vereint und frei sind, bald kommen möge. Amen.«
Ich faltete das Blatt sauber zusammen und steckte es feierlich
und mit einem stummen Gebet in eine Blechbüchse, die ich
gefunden hatte. Ich versenkte sie tief in eine Spalte des Felsens,
auf dem ich gesessen und unter Tränen geschrieben hatte.
Ich spielte sehr gerne Schach und verbrachte meine freien
Abende damit. Mein Partner war Otto Zagglauer, dem ich die
Grundbegriffe dieses fesselnden Spiels beibrachte. Er wurde
ein leidenschaftlicher Schachspieler und war glücklich, mein
Stammpartner zu sein. Eines Tages, als wir in das Spiel ver-
sunken waren, fragte er mich plötzlich: »Wer hat dich so gut
spielen gelehrt?« – »Frühere Freunde«, murmelte ich traurig
und ließ mich von der Flut der Erinnerungen in eine andere
Zeit und an einen anderen Ort versetzen. Ich konnte ihm nicht
gut Auskunft über diese Freunde geben. Sie heißen Jerzyk
Rappoport und Jakob Lublinski. In unserer Klasse in Lodz
waren wir, Jakob, Jerzyk und Salek – der polnische Name für
Sally –, das Freundestrio. Da war ich zwölf, dreizehn Jahre
alt. Wir lernten zusammen, spielten und fühlten zusammen
und entdeckten allmählich die Welt der Erwachsenen, trotz
kleiner Meinungsverschiedenheiten, die jedoch nicht gravie-
rend waren. Ich ging in den zionistischen Club Gordonia,
während meine beiden Kameraden glühende Anhänger des
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Bund waren. Und der Bund war eine antizionistische, extrem
linke jüdische Partei. Das hinderte mich nicht daran, hin und
wieder ihren Club aufzusuchen, um dort jiddische Zeitungen
zu lesen und Vorträge zu hören. Später trat auch ich dem
Bund bei, und dort hatten mich meine beiden Freunde in die
Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht. Wir drei beugten
uns stundenlang über das Schachbrett.
Als der Krieg ausbrach, lösten sich alle Bindungen auf.
Jerzyk und Jakob blieben in Lodz, und ich zog mit meinem
Bruder Isaak gen Osten. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß
Jerzyk seiner Weltanschauung treu geblieben war. Er leitete
während des Krieges das Politbüro der Kommunistischen Partei
im Ghetto von Lodz, und viele Menschen schöpften seines
Mutes und seiner Aktionen wegen Kraft und Hoffnung. Sein
kurzes Leben ging auf tragische und merkwürdige Weise zu
Ende. Es war ihm gelungen, al es Leid des Krieges zu ertragen,
und er hatte das Glück, von den Soldaten der Roten Armee
befreit zu werden. Nach der Befreiung verliebte er sich in ein
jüdisches Mädchen, das seine Liebe nicht erwiderte und einen
anderen heiratete. Er war heftig entbrannt. Der Selbsterhal-
tungstrieb und die ungeheure Kraft, die ihn das Grauen der
Shoa hatten ertragen lassen, ließen ihn jetzt im Stich, und er
nahm sich nach dieser Enttäuschung das Leben.
Aber ich hatte die Freude, Jakob wiederzusehen. Als ich
noch im Waisenhaus in Grodno weilte, kündigte man uns
eines Tages das Eintreffen eines Laienorchesters eines Minsker
Gymnasiums an. Als das Orchester da war, entdeckte ich
Jakob unter den Musikern.
Wir fielen uns bewegt in die Arme. Ich wich nicht mehr
von seiner Seite bis zum Konzert und blieb auch später bei
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ihm, bis der Morgen graute. Wir erstickten fast vor Lachen
und schmeckten unsere salzigen Tränen, Tränen der Freude
und des Kummers, die sich im Geschmack nicht unterscheiden
… Nach diesem ergreifenden Wiedersehen habe ich Jakob nie
mehr getroffen.
Ich schwieg, schmerzlich berührt. Al dies konnte ich Otto
Zagglauer ja nicht erzählen. Aber ich fühlte mich großartig,
wenn ich ihn ein um das andere Mal mattsetzen konnte. Zum
Dank, daß ich sein Lehrmeister und Partner gewesen war,
schenkte mir Otto ein kostbares Schachspiel, das er einmal
nach den Ferien von zu Hause mitbrachte. Ich benütze es
heute noch.
Eines Tages lud er
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