Ich war Hitlerjunge Salomon
mich zu einem Film ein, einer Komödie
mit Heinz Rühmann. Die Filme der damaligen Zeit, im all-
gemeinen kitschige Melodramen mit glücklichen Menschen in
sicherer Behaglichkeit, gingen stets gut aus. Das lief eigentlich
meiner persönlichen Lage völlig zuwider, erschütterte meine
seelische Verfassung und verstärkte meinen Kummer, anstatt
ihn zu besänftigen. Dennoch ging ich oft ins Kino, um mich
zu vergnügen und natürlich die Wochenschau zu sehen.
Auf dem Weg fiel unser Blick auf ein großes Plakat, das
an einer Litfaßsäule klebte, darauf ein scheußlich aussehender
Jude mit abstoßendem Gesicht, vorgewölbtem Bauch und mit
Diamanten beladen. Darunter stand: »Der Jude ist Kriegsan-
stifter und Kriegsverlängerer«.
Davon aufgehetzt, wechselte Otto den Gesichtsausdruck.
Er lief rot an und sein Kinn zitterte. Prahlerisch, irgendwie
lächerlich wirkend, griff er entschlossen zu seinem Dolch »Blut
und Ehre« und rief halb belustigt, halb ernst: »Ah, wenn jetzt
einer dieser Juden hier wäre …!«
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Ich wußte tatsächlich nicht, ob ich lachen oder protestieren
sollte, und reagierte überhaupt nicht. Trotz der Wut, die in
mir kochte, hatte ich mich im Griff. Ich verzog nur verächt-
lich die Lippen. »Komm, sonst ist es für den Film zu spät!«
Ich zog ihn mit. Auch diesmal war es mir gelungen, ruhig
Blut zu bewahren. Das Plakat ging mir nicht aus dem Kopf.
Dessen Aussage war nicht harmlos, sondern die für die Nazis
typische Propaganda, den Juden zum Sündenbock zu machen.
Ihre Hoffnungen auf einen Blitzkrieg hatten sich nicht erfüllt,
im Osten blieb die Armee in den Schlammsümpfen stecken.
Zeichen der Unzufriedenheit machten sich bemerkbar, auch im
Hinterland. Man registrierte mit Bitterkeit die Leiden und den
Preis, den die unzähligen Opfer bezahlten. Der Reichspropa-
gandaminister Joseph Goebbels wandte sich an die Deutschen
und stellte ihnen die aufreizende Frage: »Wißt ihr, wer an
dieser schrecklichen Lage schuld ist? Die Juden. Sie haben
uns den Krieg aufgezwungen und haben ein Interesse daran,
ihn zu verlängern, um sich an ihm zu bereichern.«
Mein Freund Otto konnte damals nicht ahnen, daß, außer
Jupp-Salomon, binnen kurzem nicht mehr viele Juden in Eur-
opa übrig bleiben würden und daß es gerade seine Landsleute
waren, die sich an den Diamanten, den Goldzähnen, den
Knochen und Haaren dieser Juden bereichern würden – ich,
der Jupp, ahnte es auch nicht, obwohl wir im Unterricht
lernten, daß die Vernichtung der Juden eine Notwendigkeit
sei, nicht jedoch wie und wann.
Der Film ließ mich dann doch meinen Schmerz und
meinen Zorn über das Plakat etwas vergessen. Er war ganz
unterhaltsam und lenkte mich vorübergehend von meinen
inneren Spannungen ab.
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Die Zuschauer bestanden hauptsächlich aus Frauen, denn
die meisten Männer waren eingezogen worden. Im Hinterland
verblieben einzig die Alten und Militärs auf Fronturlaub. Die
»Fremdarbeiter« erkannte man an einem Abzeichen an ihren
Kleidern.
– Otto sollte später in meinem Leben nochmals eine Rolle
spielen. Es mag eigenartig anmuten, aber ich gab noch ein-
mal dem Jupp in mir nach und traf mich nach dem Krieg
mit ihm. Das war 1947 in München. Ich wohnte bei mei-
nem Bruder Isaak. Bei ihm trafen sich befreundete Juden,
die im KZ überlebt hatten. Als ich denen erzählte, daß ich
bei der Hitlerjugend war, hielten sie es wirklich für Phanta-
sterei. Und wörtlich sagten sie sogar: »Du spinnst«. Ich hielt
dagegen: »Ich kann es euch beweisen«. Denn mir fiel Otto
aus München ein. Eigentlich kannte ich nur seinen Namen
und sein Geburtsdatum, aber diese Auskünfte genügten dem
Landeseinwohneramt, und ich erhielt seine Adresse. Ich konnte
es kaum erwarten und benutzte Straßenbahn und Omnibus,
um zu seiner Wohnung zu gelangen. Auf dem Klingelschild
stand: »Familie Zagglauer«.
»Ja, mein Sohn ist zu Hause.« Es war seine Mutter, die
mir die Tür öffnete.
Al es war noch so frisch und nahe. Ich hatte die veränderte
Lage, die unschätzbare Kostbarkeit namens Freiheit noch nicht
verarbeitet. Der Jupp in mir suchte den Kameraden. Sal y ließ
das kalt, war eher hochmütig und arrogant. Otto betrat den
Raum, und wir standen uns gegenüber. Seine Freude war of-
fensichtlich. Auch ich strahlte. Zunächst aber sprach nur noch
Sally, getrieben von dem Gedanken, ihm die Neuigkeit zu
verkünden, worauf ich so lange gewartet hatte: die Neuigkeit
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vom
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