Ich war nur kurz bei Paul
Fahrradtour machen wolle und nicht vor dem Abendessen zu Hause sei. So bestieg er entschlossen sein Fahrrad und fuhr los. Das Wetter war nicht besonders freundlich, immer wieder gab es leichte Schauer, so dass er Schutz unter Brücken, Bäumen und in Wartehäuschen suchen musste. Eigentlich war es bei dem Wetter Blödsinn, so weit mit dem Rad zu fahren, aber ein Junge in seinem Alter hatte für solche logischen Standpunkte nicht viel übrig. Was er sich in den Kopf setzte, wollte er auch durchführen. Er freute sich sehr auf den Besuch, und bevor er das Heim erreichte, kaufte er beim Bäckerladen des Dorfes eine Donauwelle , die mochte Oma Jensen immer so gern.
Als er an der Heimtür klingelte, musste er lange warten bis ihm geöffnet wurde. Eine Pflegeschwester in weißblauem Kittel öffnete und sah ihn erstaunt an. »Ja? Was möchtest du?«
»Ich will zu meiner Oma - sie besuchen!« Die Schwester blickte sich vor dem Eingang suchend um.
»Bist du denn allein? Sind deine Eltern nicht mit dabei?«
»Nein, wieso?«
»Naja, dies hier ist ein Pflegeheim, und ich weiß nicht recht, ob du da allein rein darfst. Wie heißt du, und wen willst du besuchen?«
»Ich bin Ralf Jensen, und meine Oma heißt Erna Jensen.«
»Warte einen Moment! Ich gehe und frage die Pflegedienstleiterin, ob du deine Oma allein besuchen darfst. Einen Augenblick!« Die Tür schloss sich. Die stellen sich aber auch an! Was war daran so ungewöhnlich, dass ein Junge seine Oma besuchte? Wenig später sah er durch die geriffelte Glasscheibe der Tür zwei Gestalten heran kommen. Die Tür ging auf und eine rotwangige Frau in Begleitung der Schwester, die ihm die Tür aufgemacht hatte, fragte ihn:
»Na, junger Mann. Du willst deine Oma besuchen, die Frau Jensen?«
»Ja, was ist daran so ungewöhnlich?«
Die rundliche Schwester hüstelte nervös. »Na, du weißt aber schon, dass dies hier ein Pflegeheim für sehr kranke Menschen ist, oder? Deine Oma kann sich schlecht Namen merken und manchmal erkennt sie nicht einmal die eigene Familie.«
»Das weiß ich. Das hat mein Vater auch gesagt. Aber das finde ich nicht so schlimm wie er. Kann ich jetzt zu ihr? Ich hab ihr auch ihren Lieblingskuchen mitgebracht« Einen Augenblick lang wirkte die Frau unschlüssig und schaute zweifelnd ihre jüngere Kollegin an. Die schien gerührt und kam dem Jungen zu Hilfe. »Ich hätte ja jetzt eigentlich Feierabend, aber, wenn Sie es erlauben, begleite ich den Jungen und besorge Gabel und Teller und passe auf.«
»Na gut, dann soll es mir recht sein. Komm rein, Junge! Schwester Saskia zeigt dir, wo deine Oma wohnt.« Na endlich, wurde aber auch Zeit! Im Haus roch es eigentümlich. Das war ihm schon bei anderen Besuchen, die er in Begleitung seines Vaters unternommen hatte, aufgefallen. »Hier entlang, Ralf!« Er folgte Saskia durch Flure in denen alte Menschen mit freundlichen Gesichtern entlang schlurften. Einige stützten sich auf Gehwagen, andere hielten sich an den an den Wänden angebrachten Geländerstangen fest.
Die Menschen, die ihn ansahen, freuten sich beim Anblick des aufgeweckten Jungen mit dem Kuchentablett in der Hand. Sie sahen in ihrem Leben nicht mehr oft Jugendliche, die sich in dieses Heim verirrten. Nun kamen sie in einen großen Saal mit vielen Tischen und Stühlen. Ralf sah, dass viele alte Menschen hier saßen. Einige redeten miteinander, andere sahen mit leerem Blick vor sich hin, einige wiegten dabei ihre Köpfe.
An einem Tisch an der Wand saß eine alte Frau in einem besonderen Stuhl, vergleichbar mit einem Kinderstuhl, mit einer Ablage vor sich, damit sie nicht heraus rutschen konnte. Sie hatte den Kopf nach hinten gelehnt, ihre Augen starrten an die Decke, aus dem offenen Mund tropfte Speichel auf das umgebundene Lätzchen. Seltsame Laute, die keiner verstehen konnte, wehten in nicht enden wollender Folge durch den Raum. Niemand kümmerte sich darum.
Für viele Erwachsene, die diesen Anblick der hilfsbedürftigen alten Leute nicht gewohnt waren, hatten diese Bilder etwas Beängstigendes. Für Ralf galt das nicht. Er kannte keine Berührungsängste - er mochte alte Menschen. Sein Blick glitt prüfend durch den Raum. Jetzt sah er seine Oma in der Ecke beim Fenster sitzen. Ganz allein saß sie da und schaute aus dem Fenster in den großen Garten.
»Frau Jensen, ihr Enkel ist da. Hallo!« Saskia tippte der alten Dame auf die Schulter. »Ihr Enkel Ralf ist da und
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