Ich weiss, dass du luegst
Jungen bestohlen, der zuvor geschummelt hatte, um Ronnie in einem Schulwettbewerb zu besiegen. Vielleicht würde Ronnie sich nicht schuldig fühlen, einen solch fiesen Klassenkameraden zu bestehlen. Die Tat könnte sogar als angemessene Rache durchgehen. Trotzdem würde er womöglich immer noch ein Schuldbewusstsein dafür empfinden, seinen Diebstahl vor dem Schuldirektor oder vor seinem Vater verheimlicht zu haben. Die Psychiatriepatientin Mary hatte keine Schuldgefühle für ihren Vorsatz, Selbstmord zu begehen, aber sie fühlte sich schuldig, ihren Arzt belogen zu haben.
Wie die Furcht vor Entlarvung kann das Schuldbewusstsein für den Betrug in seiner Stärke variieren. Es kann sehr schwach oder aber so ausgeprägt sein, dass die Lüge auffliegen wird, weil das Schuldbewusstsein ein Durchsickern ermöglicht oder Täuschungshinweise hervorruft. Wenn das Schuldbewusstsein für den Betrug extrem wird, kann das eine peinigende Erfahrung sein und das Selbstwertgefühl des Leidenden grundlegend erschüttern. Der Wunsch nach Erleichterung von diesen Qualen kann auch dann zu einem Geständnis führen, wenn eine Bestrafung für die zugegebenen Vergehen wahrscheinlich ist. Tatsächlich gibt es Fälle, wo die Bestrafung genau das ist, was die Person braucht, um die quälenden Schuldgefühle zu mildern, sodass sie ein Geständnis ablegt.
Wenn jemand den Entschluss zu einer Lüge fasst, kann er nicht immer genau voraussehen, wie sehr er sich später für den Betrug schuldig fühlen wird. Vielleicht erkennt der Lügner anfangs noch nicht, wie sich die Dankbarkeit des Opfers für seine vermeintliche Hilfsbereitschaft auf ihn selbst auswirken wird oder wie er sich fühlen wird, wenn er sieht, wie jemand anders für sein Vergehen verantwortlich gemacht wird. Normalerweise rufen solche Szenarios Schuldgefühle hervor, für manche Menschen sind sie jedoch wie das Salz in der Suppe, die Würze, die jede Lüge rechtfertigt. Ich werde diese Reaktion anschließend als Freude an der Überlistung besprechen. Es gibt noch einen anderen Grund, warum Lügner unterschätzen, wie viel Schuldgefühle sie beim Betrügen haben werden: Ein Lügner kann erst im Lauf der Zeit erkennen, dass einmal lügen nicht genügt. Er muss die Lüge wiederholen, häufig mit zusätzlichen Ausschmückungen, um den ursprünglichen Betrug aufrechtzuerhalten.
Scham steht in enger Beziehung zur Schuld, aber es gibt einen entscheidenden qualitativen Unterschied. Für Schuldgefühle braucht man kein Publikum, niemand sonst muss davon erfahren, denn der Schuldige ist sein eigener Richter. Für die Scham gilt das nicht. Die Demütigung, die mit der Scham einhergeht, setzt die Missbilligung und den Spott anderer Menschen voraus. Wenn niemand jemals von dem Vergehen erfährt, wird man sich zwar nicht gedemütigt, womöglich aber sehr wohl schuldig fühlen. Und natürlich kann man beides gleichzeitig empfinden. Der Unterschied zwischen Scham und Schuld ist sehr wichtig, da ein Mensch zwischen beiden Emotionen hin und her gerissen werden kann. Der Wunsch nach Erleichterung von Schuld mag ein Geständnis hervorrufen, aber der Wunsch, sich die Demütigung zu ersparen, kann es verhindern.
Nehmen wir an, Winslow Boy Ronnie hätte das Geld tatsächlich gestohlen, fühlte sich extrem schuldig für die Tat und empfände auch ein Schuldbewusstsein dafür, sein Vergehen verheimlicht zu haben. Vielleicht würde Ronnie gern ein Geständnis ablegen, um seine Gewissensbisse zu lindern. Dennoch könnte ihn die Scham daran hindern, wenn er sich die Reaktion seines Vaters vorstellt. Erinnern wir uns, dass sein Vater ihm Straffreiheit zusichert, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen - keine Bestrafung, wenn er beichtet. Ronnies Angst vor Bestrafung wird dadurch zwar kleiner, und das sollte auch seine Furcht vor Entlarvung verringern, dennoch muss der Vater noch die Scham reduzieren, damit Ronnie gestehen kann. In der Tat versucht der Vater das, indem er Ronnie erzählt, er werde ihm vergeben. Gleichwohl hätte er die Scham stärker reduzieren und damit die Wahrscheinlichkeit eines Geständnisses erhöhen können, wenn er etwa die Masche des Vernehmers angewendet hätte, den ich oben zitiert habe. So wie dieser versuchte, einem Mordverdächtigen ein Geständnis zu entlocken, hätte der Vater zu Ronnie sagen können: «Ich kann verstehen, warum jemand stiehlt. Vielleicht hätte ich selbst es getan, wenn ich in deiner Situation und derart in Versuchung gewesen wäre. Jeder macht Fehler in
Weitere Kostenlose Bücher