Ich weiß, ich war's (German Edition)
sich in unbekanntes Terrain wagt. Diese Verantwortung müssten wir für uns übernehmen, dann könnten wir auch fliegen.
Ich weiß, es sind manchmal nur Sekunden, in denen einen das Theater aus der Kurve schleudert, in denen sich Dinge zusammenfügen, die eigentlich nicht zusammengehören, und alles zu fliegen beginnt. In denen sich ein Vorhang auftut in eine Welt, die plötzlich einfach da ist und die man nicht korrigieren kann. Dann geht es wie im Leben natürlich ganz schnell zurück in die Funktionalität: Du musst zur Türe! Du musst in deinem Stuhl sitzen! Wo bleibt die Torte? Wieso geht das Licht nicht an? Warum dreht sich die Bühne nicht? Wer ist hier schuld?
Ich will, dass wir uns zu unserer Widersprüchlichkeit bekennen. Ich verlange einfach, dass der Mensch aufhört zu tun, als wisse er, wer er ist. Wir wissen nicht, wer wir sind, weil niemand von uns analysiert, was wir ursprünglich einmal wollten. Natürlich gibt es Militärkarrieren, die von Kindesbeinen an wissen, dass sie wie der Opa nach Stalingrad wollen, die mit diesem Glauben dann auch sterben. Aber ich habe selbst Verwandte, die mit einer Gewissheit erzogen wurden und durchs Leben gingen und am Ende nun ganz weich werden und die Dinge infrage stellen. Ich bin im Grunde ja religiös, nicht in einem esoterischen Sinne, aber ich sehe immer diese große Qualität im 1. Buch Mose, als Gott sagt, dass er alles wieder vernichten werde, was er geschaffen hat. Das ist ein Satz, der dem Menschen guttäte, sofern er ihn wirklich einmal innerlich vollziehen würde. Wir haben doch eigentlich nichts Sinnvolles auf die Beine gestellt, wir haben immer nur so getan, als ob – um abzulenken von unserem eigenen Dilemma. Dieser Gedanke könnte zu einer regelrechten Massenbewegung werden, die jedoch nichts mit dem schleimigen Zusammenrücken zu tun hätte, mit Selbstmitleid oder den Solidaritätsbekundungen, die mir zum Beispiel als Krebspatient entgegenschlagen. Natürlich gibt es Leute, die in Tränen ausbrechen, weil sie sich in meinem Leid wiedererkennen oder weil sie wirklich darüber trauern, dass ich sterbe. Aber ich bin überzeugt, dass es einem besser geht, wenn man aufhört, diese ganzen Trauertermine wahrzunehmen, und den Befindlichkeitsbrei des Gutmenschentums radikal ablehnt.
(17. Juli 2010, Interview mit Thomas David)
Auch wenn ich die Idee der Transformation immer heftig propagiert habe, seit der Krankheit habe ich wirklich massive Probleme damit. Als ich Anfang 2008 in Bhaktapur war – das war eine Woche, bevor ich den Befund bekam –, war ich ja noch auf der Suche nach solchen Orten, die als eine Art Transformationskasten funktionieren. Bhaktapur kann ich diesbezüglich auch wirklich sehr empfehlen, da wird man wahnsinnig vor lauter Transformation. Da kreisen die Götter und Geister in einer Art und Weise durch die Gegend, wie wir Monotheisten und Atheisten uns das nicht vorstellen können. Wir bleiben ja letzten Endes vorm Alter oder vorm Kapital stehen, schauen gebannt hoch und warten auf die Geldscheine oder die Zungen oder auf irgendwelche andere Momente von Erleuchtung. Und meist schlafen wir beim Warten einfach ein. Aber durch den Altar durchlaufen – das trauen wir uns nicht.
Wenn wir das Talent der Leute aus Bhaktapur hätten, würden wir durchlaufen. Da finden Sie kleine Löcher in der Wand, wo der Geist durchfliegt. Wenn der Nachbar drüben diesen Geist von Ihnen nicht mag, schiebt er seinen Schrank davor. Das ist etwas, was die Leute dort tatsächlich spüren. Sie fragen sich, was ist hier los, irgendwas stimmt hier nicht, gucken da rein und sehen, dahinten ist gar kein Licht mehr, also hat jemand etwas davorgehängt. Und dann geht man die Nachbarn besuchen, lernt die kennen, spricht über das Problem und anschließend wird der Schrank meist auch wieder weggeräumt.
Das Hospiz in Bhaktapur ist auch interessant: Da hat man drei Tage zum Sterben, wenn man dann nicht tot ist, muss man wieder nach Hause. Falsches Timing. Im selben Haus gibt’s auch ein Zimmer, in dem die Frauen ihre Kinder gebären. Und es laufen Horden von Affen rum. 200, 300 Affen rasen immer wieder wie irre den Tempelberg runter, hüpfen über die Flussbrücke und auf der anderen Seite des Ufers wieder rauf. Dort ist der Treffpunkt der Paare, die sich vom Brahmanen für die Hochzeit einweisen lassen. Also alles ganz eng miteinander verwoben: Geburt, Leben, Liebe, Tod. Und dann noch die Verbrennungen. Je nach Vermögen gibt’s mehr oder weniger Holz. Die
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