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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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zu tun zu haben – ich denke, er hatte recht. Wahrscheinlich habe ich deswegen viele Jahre lang ausgerufen, alle müssten sich immer wieder transformieren. Transformation war das Hauptziel. Momente schaffen, wo keiner genau weiß, was jetzt passiert, die Kontrollmechanismen verlieren, sich in einen fließenden, rauschartigen Zustand versetzen. Eben authentisch werden. Bei sich sein. Das heißt: Es lief fast alles so ab, wie man es vorher auf den Proben abgesteckt hatte, aber dazwischen gab es Freiflächen, wo wir alle rüberschwimmen mussten. Wie auf einer Insel, auf der ich stabil stehe, dann aber irgendwann zur nächsten Insel muss und mich damit der Instabilität aussetze. Bei »Schlacht um Europa« zum Beispiel hatten wir 27 Aufführungen und an jedem dieser 27 Abende gab es neue Szenen. Das musste man natürlich gemeinsam trainieren. Einmal haben wir sogar versucht, das Ganze rückwärts zu spielen. Hinten angefangen und versucht, nach vorne zu kommen. Das klappte natürlich gar nicht. Trotzdem haben wir uns immer wieder solche Aufgaben gestellt, damit der Abend bloß nicht gleich ist. Das landete oft in der totalen Verkrampfung, aber manchmal konnte man doch Momente erzeugen, wo in einem ganz merkwürdigen, metaphysischen Zustand gehandelt wurde und auch die Zuschauer merkten, irgendetwas hier ist jetzt gerade nicht normal.
    Den Anfang machte der Tod von Alfred Edel bei »100 Jahre CDU«, da haben wir, glaube ich, zwölf Sekunden Metaphysik geschafft. Alfred wollte nach vier Aufführungen kurz nach Hause fahren, kam in seiner Frankfurter Wohnung aber nicht mehr an: Herzinfarkt. Man fand ihn vor seiner Wohnung, das erste der zwei Sicherheitsschlösser hatte er noch aufbekommen, das zweite nicht mehr. Ich war sehr, sehr traurig, weil ich Alfred geliebt habe. Aber die Volksbühne kam an und erklärte: »Der Lappen muss hochgehen, wir brauchen Ersatz.« Ich weiß noch, wie entsetzt ich war: »Nein, es gibt keinen Ersatz! Ich habe doch den ganzen Abend um ihn herumgebaut, das kann ich doch jetzt nicht einfach mit jemand anderem auffüllen. Wer soll das denn sein? Alfred ist doch einmalig!« Also habe ich mich geweigert, einen Ersatz zu suchen. Dass das Stück abgesetzt wird, wollte ich aber auch nicht. Ein Riesenkampf war das damals, Matthias half mir, das durchzusetzen. Dann kam die nächste Aufführung. Und an der Stelle, wo Alfred hätte auftreten müssen, war einfach eine Lücke. Das Stück blieb plötzlich stehen. Das war kein Fehler, weil sich jemand verspricht oder den Text vergisst, sondern das war eine so authentische Lücke, dass alle auf der Bühne und im Zuschauerraum den Atem anhielten und den Stillstand zulassen konnten. Zumindest mal ein paar Sekunden lang.
    Das sind die kurzen Momente, die Theater leisten kann, weshalb ich auch immer wieder dorthin zurückgekehrt bin. Und nach dieser Spiritualität im Theaterraum sehne ich mich mehr denn je. Nur glaube ich inzwischen, dass der Vorgang der Transformation zu kurz greift und ich damit zu oft in irgendeinem Brei gelandet bin. Tief drin weiß ich, dass ich sehr oft zu Hause unglücklich rumsaß, weil ich selbst nicht wusste, wo die Kante ist. Ich war wohl oft auf der Flucht vor mir selbst, wollte nicht bekennen: Das ist es jetzt! Das habe ich gemacht! Durch die Krankheit ist das jetzt anders. Ich will nicht mehr die permanente Transformation. Ich will konkreter werden. Endlich auch mal landen und wissen, wo ich hingeraten bin. Und warum.
    Wir behaupten ja oft, dass wir uns verändern. Sagen uns: Ich will nicht mehr so hart sein, ich bin auch schon weicher geworden, esse nicht mehr mit Messer und Gabel, sondern mit einem Schieber, damit ich die Nahrung nicht kaputt schneiden muss und sie ihre Form behalten kann. Tja, da hat sich jemand beim Mittagessen transformiert – das kann’s ja nicht sein, das ist zu wenig. Das hat nichts mit echter Befreiung zu tun. Ich glaube inzwischen, die Metamorphose ist das entscheidende. Sich wirklich verwandeln können, wie eine Raupe – das wäre es.
    Wenn man sich mal so eine Raupe mit ihren 150   000 Füßchen vorstellt, die an einem Bäumchen rumschlabbert, nicht so genau weiß, ob das noch ihr Fuß ist oder schon der vom Nachbarn, dann macht’s plötzlich schwupp – und schon ist sie in der Luft. Das ist doch irre. Da hat etwas stattgefunden, was nichts mehr mit Transformation zu tun hat. So eine Metamorphose müssten wir eigentlich auch erreichen, die geht viel tiefer, ist natürlich auch viel härter, weil man

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