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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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hier. Auf der anderen Seite war auch alles sehr ernst. Wolfgang Wagner holte Berge von Probenplänen raus, auf denen Tausende von Terminen notiert waren. Hier gehe es los, da wäre dann das Wochenende frei, hier könne ich auch mal nach Berlin fahren, und da sei dann Orchesterprobe. Und das alles nicht nur für 2004, sondern gleich schon fürs zweite, dritte und vierte Jahr. Ich wusste bis dahin noch nie, was ich das Jahr drauf mache – und jetzt hatte ich gleich vier Jahre vor der Brust.
    Dann sind wir noch im Hotelrestaurant essen gegangen. Wolfgang und ich haben uns super verstanden, weil wir beide Wohnmobilfans sind. Ich bin Wohnmobilist, er auch. Das verbindet natürlich. Zumal Gudrun es gehasst hat: »Ich fand’s immer schrecklich, alle vier Tage mit dem vollgeschissenen Eimer zur Güllestation, und dann immer dieses Krutz, Glutsch, Glutz.« Wie sie dieses Geräusch nachgemacht hat, war wirklich sehr, sehr beeindruckend … Und sie hatte natürlich recht – das ist schon eklig am Campingplatz, wenn man da am Gülleloch steht und seinen Mist entsorgt. Aber es verbindet eben auch ungemein, weil da ja alle hinmüssen, egal ob Luxuscampingwagen oder kleines Zelt.
    Dieses Gespräch über Wohnmobile und Gülle war jedenfalls der Moment, als kameradschaftliche Gefühle aufkamen und Wolfgang und ich eine Art Freundschaftspakt schlossen. Ein bisschen wie diese Staatsgründungen mit besoffenem Kopp von Alexander Kluge. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und habe gedacht: Oh Gott, was habe ich denn da gestern gemacht? – Ach ja, Wagner und ich haben einen Freundschaftspakt geschlossen, ich inszeniere in Bayreuth den »Parsifal«, genau!
    Richard Wagner wollte eine seiner Kompositionen am Rhein aufführen – ich glaube, es war sogar »Rheingold«. Und danach wollte er die Partitur mitsamt dem Aufführungsort abfackeln – das war’s dann. Bleibt nur noch Asche übrig, da kann man dann noch draufgucken, vielleicht ein bisschen drin rumstochern und vor allem: projizieren – dann sieht man vielleicht mehr als das, was die Veranstaltung selbst gezeigt hat. Der Gedanke ist sensationell. Müsste bei 95 Prozent aller Kulturveranstaltungen von vorneherein Grundbedingung für Sponsoren sein: Hier wird es nachher garantiert nichts mehr geben. Hier kann man sich nur noch auf dieser Fläche treffen und den Stimmungen nachspüren, die von dem Ort ausgehen. Und dann sieht und hört man vielleicht doch irgendetwas im Nichts. Dann kann man vielleicht Glücksmomente erleben wie ich damals am Amazonas, wo man auf dem Schrott der Vergangenheit herumläuft, der Dünger für die Zukunft ist. Oder als ich während meiner Flitterwochen mit Aino irgendwo auf einer Alm in den Dolomiten saß. Da findet man in dreieinhalbtausend Metern Höhe Muscheln und Fische, in Stein eingepackt vor 200 Millionen Jahren, weil die Dolomiten mal ein Korallenriff waren. Ein Atoll in den Dolomiten – Wahnsinn! Da saß ich abends und hörte die Schreie von 200 Millionen Jahren: die Lustschreie, die Liebesschreie, die Todesschreie, die Angstschreie. Das war wie Musik – 200 Millionen Jahre sind halt ein Riesenkonzert. Und der kleine Fliegenschiss, den ich hier selbst aufführe, ist nur ein kleiner Brocken in der Ölmaschine von Zukunft. Aber auch in dem kleinen Fliegenschiss ist Musik drin, eine kleine Stimme, die nicht verloren geht, davon bin ich überzeugt. Sonst könnte man diese kurzen Glücksmomente einer völligen Einheit nicht erleben.
    (25. Februar 2010, Tonbandaufzeichnung)
    Sie haben sich in Bayreuth auch ehrlich auf mich gefreut, es fing eigentlich alles wunderbar harmonisch an. Zu Probenbeginn erhielt ich einen superfreundlichen Brief von Gudrun Wagner und so bin ich ziemlich gut gelaunt zur ersten Probe gegangen, wollte erst einmal erzählen, was ich vorhatte, welche Gedanken zum »Parsifal« bei mir so kreisten. Ich kann solche Anhörungssituationen nicht leiden; trotzdem habe ich mir sehr viel Mühe gegeben, weil ich wollte, dass die Leute mich kennenlernen, dass sie verstehen, wer ich bin – und mir nicht mit diesen Schablonen im Kopf begegnen. Mit der Nachricht »Schlingensief ist berufen« gingen die Spekulationen ja schon los: Wahrscheinlich Hakenkreuze und George W. Bush auf der Bühne … kotzt bestimmt in den Orchestergraben und scheißt denen noch einen braunen Haufen hin …
    Also habe ich vor der versammelten Mannschaft erst mal versucht, Missverständnisse auszuräumen, habe erklärt, dass es mir nicht darum geht, billige

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