Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
entstand aus einem Essay, der die rhetorische Frage »Macht uns Google dumm?« als Überschrift hatte). So ist beispielsweise »konzentriertes Lesen« für unser Gehirn noch nie, im Gegensatz zu dem, was Carr schreibt, »etwas ganz Natürliches« gewesen, sondern es war vielmehr genau umgekehrt stets etwas hochgradig Künstliches. Eine Umwelt, die aus Buchstaben besteht, hat zumindest mit der afrikanische Savanne, in der unser Gehirn maßgeblich entstanden ist, nicht allzu viel gemein. Sich für längere Zeit auf abstrakte Symbole in Form von Buchstaben zu konzentrieren war schon immer etwas relativ Mühsames für ein Gehirn, das auf das Sammeln von Nüssen, das Verführen von Vertretern des anderen Geschlechts sowie dafür, Säbelzahntigern auszuweichen, optimiert wurde.
Zweitens ist das Gehirn robuster, als Nicholas Carr annimmt. Das Internet mag mächtig sein, es hat aber nicht die Macht, unser Gehirn von Grund auf neu zu strukturieren. Sicher verwöhnt es unser Gehirn, bis zu einem gewissen Grad ändert es das Gehirn auch, nur weniger tiefgreifend, weniger schicksalhaft-irreversibel und vor allem weniger verdummend, als Carr glaubt.
Ironischerweise ist es mir zum Beispiel gelungen, Carrs Buch nahezu in einem Stück, ohne längere Unterbrechungen, zu Ende zu lesen. Allerdings befand ich mich in einer besonderen Situation, in die ich mich, seit meine Freundin nach Utrecht in den Niederlanden gezogen ist, regelmäßig wiederfinde: Ich saß sechseinhalb Stunden im Zug. Da ich festgestellt habe, dass ich – wahrlich kein Zen-Meister der Konzentration – im Zug plötzlich über eine für meine Verhältnisse beeindruckende Konzentrationsfähigkeit verfüge, bin ich dazu übergegangen, alle eher langweiligen Arbeiten bewusst für meine Zugfahrten aufzuheben: In der Ödnis eines ICE kommt mir auch die nüchternste Lektüre ( Science & Co.) noch relativ unterhaltsam vor.
Nein, es geht hier nicht um Schleichwerbung für die Bahn, es geht nur um die Frage, ob Carr und seinesgleichen recht haben: ob nicht nur unsere Konzentrationsfähigkeit, sondern auch unser Denken und unsere Intelligenz unter dem Internet leiden. Was unsere Konzentrationsfähigkeit betrifft, stimme ich Carr teils durchaus zu. Vor einem Computer sitzend oder auch nur in der Nähe eines Computers, erwartet unser Gehirn ständige Maximal-Unterhaltung, unsere Konzentrationsfähigkeit rangiert konsequenterweise im unteren Bereich.
In einer Umwelt dagegen, in der es kaum Möglichkeiten zur unterhaltsamen Abschweifung gibt, senkt das Gehirn seine Erwartungen, und es fällt uns leichter, uns für längere Zeit mit einer Sache zu beschäftigen. Es gibt kaum etwas anderes zu tun.
Das heißt, wir können gegensteuern und unserer Konzentrationsfähigkeit auf die Sprünge helfen. Dabei scheint es so zu sein, als würde es sich mit dem Informationshunger unseres Gehirns ein bisschen so verhalten wie mit unserem sonstigen Hunger auch: Eine Diät ist nie einfach, besonders aussichtslos aber ist sie, wenn das Haus randvoll mit Süßigkeiten gefüllt ist. Um die Konzentration zu verbessern, reicht es wohl nicht, die geistigen Süßigkeiten einfach wegzusperren (wie mir mein internet- und dennoch ruheloser Tag gezeigt hat), wir müssen ihnen weiträumiger aus dem Weg gehen. Unter Umständen müssen wir das Haus ganz verlassen und einen Ort aufsuchen, an dem wir uns erst gar nicht an Ablenkung gewöhnt haben. Bei mir hat sich da die Bahn bewährt, aber das muss ja nicht heißen, dass Ihnen nicht eine attraktivere und preiswertere Offline-Oase einfällt.
4.
Von der Stadt zum Neurotiker
If you can make it there, you can make it anywhere
Für viele von uns – vor allem natürlich für die eingefleischten Stadtneurotiker unter uns – befindet sich die schönste Offline-Oase bestimmt irgendwo in der Ferne auf dem Land, in der stillen Weite einer unberührten Natur, zum Beispiel am Weststrand auf dem Darß, einem menschenleeren Ostsee-Küstenabschnitt, der sich kilometerweit von jeder Ortschaft befindet und nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen ist.
Unterwegs in einer stickigen, überfüllten U-Bahn oder aus dem Fenster auf grauen Beton blickend, taucht im Städter zuweilen die Sehnsucht auf, der Stadt den Rücken zu kehren – eine Sehnsucht, die wohl nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass die Stadt die Themen dieses Buchs, wie erwähnt, in sich vereint und auf die Spitze treibt, in positiver wie in negativer Hinsicht:
Erstens: die Freiheit, Angebote
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